Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. unangemessene Verfahrensdauer. Entschädigungsklage. Verzögerung durch zulässiges klägerisches Prozessverhalten. materielle Verfahrensleitung. richterliche Unabhängigkeit. Einschätzungsprärogative des Ausgangsgerichts. Abwarten der Entwicklungen in einem Parallelverfahren. Warten auf angekündigtes Verwaltungsgutachten. ex-ante-Beurteilung. Erinnerung des Sachverständigen an die Gutachtenerstellung. Beschleunigungsgebot. keine Notwendigkeit von monatlichen Erinnerungen oder Ordnungsgeld bei wenigen Monaten. Verzögerungsmonate. Entgegennahme des Posteingangs als verfahrensfördernde Handlung. gesetzliche Aktivitätszeit für Abfassung des Urteils. besondere Schwierigkeit des Verfahrens. großer Aktenumfang und viele Anträge
Leitsatz (amtlich)
Zeiten durch den Kläger selbst herbeigeführte Verfahrensverzögerungen fallen, auch wenn sie sich wie hier im Rahmen zulässigen Prozessverhaltens bewegen, in seinen Verantwortungsbereich und können keine unangemessene Verfahrensdauer begründen.
Orientierungssatz
1. Zum Leitsatz vgl BSG vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 4 und vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R = BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16.
2. Bei der Entscheidung, ob und welche Frist einem Sachverständigen zu setzen ist und wann er wie an die Erstellung des Gutachtens zu erinnern ist, handelt es sich um eine Maßnahme der materiellen Verfahrensleitung, die in den Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit fällt.
3. Zumindest solange die gesamte Bearbeitungszeit durch den Sachverständigen (wie hier) noch unter 6 Monaten liegt, hält der Senat eine monatliche Erinnerung des Sachverständigen oder die Androhung eines Ordnungsgeldes nicht für notwendig.
4. Ein Sozialgericht darf die Entwicklungen in einem Parallelverfahren abwarten, um die Ergebnisse des Parallelverfahrens im eigenen Verfahren würdigen zu können.
5. Der Senat hält es zudem für vertretbar, aus ex-ante-Sicht ein kurzfristig zu erwartendes, aber noch nicht vorliegendes (Verwaltungs-)Gutachten abzuwarten - selbst wenn sich später herausstellen sollte, dass ein solches nicht erstellt wird.
6. Als eine Aktivität des Ausgangsgerichts zählt auch die Entgegennahme eines Posteingangs, da dies am Beginn der gerichtlichen Bearbeitung durch das Gericht steht (vgl BSG vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R = BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22).
7. § 134 Abs 2 S 1 SGG billigt dem Gericht einen Monat als gesetzlich definierte Aktivitätszeit für die Formulierung und die Niederschrift des Urteils zu, der daher nicht der allgemeinen Vorbereitungs- und Bedenkzeit zugeordnet werden kann (vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R ).
8. Eine besondere Schwierigkeit des Verfahrens kann auch auf dem Umfang der Akten des Verfahrens (400 Seiten) sowie eines für das Verfahren relevanten Parallelverfahrens (700 Seiten Akteninhalt) und der Vielzahl von Klagen und Schriftsätzen des Klägers beruhen.
9. Weitgehend parallel zur Entscheidung des LSG Halle (Saale) vom 30.5.2023 - L 10 SF 46/21 EK.
Nachgehend
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 8.000 € festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt vom Beklagten eine Entschädigung aufgrund einer behaupteten überlangen Dauer eines Berufungsverfahrens beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt ( L 1 R 181/16 ).
Mit einem am 25. April 2014 eingegangenen Schriftsatz erhob der Kläger, vertreten durch seine Schwester, Klage am Sozialgericht (SG) Dessau-Roßlau und beantragte eine Verurteilung der beklagten Rentenversicherung zur Neubescheidung. In der Sache begehrte er in einem Verfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB X) die Umdeutung seines Antrages auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in einen Antrag auf Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Klage wurde der beklagten Rentenversicherung am 30. April 2014 zur Kenntnis- und Stellungnahme übersandt. Weiterhin wurden die Verwaltungsakten angefordert. Mit Schriftsatz vom 7. Mai 2014 - eingegangen am gleichen Tage - übergab der Kläger zum Beleg seines Vortrages mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die am Folgetag der beklagten Rentenversicherung zur Kenntnisnahme übersandt wurden. Der Kläger beantragte zugleich Akteneinsicht bezüglich seiner 3 Gerichtsverfahren gegen die Deutsche Rentenversicherung. Noch am 8. Mai 2014 teilte das SG ihm mit, dass die Akten zu den Sprechzeiten auf der Geschäftsstelle eingesehen werden könnten. Am 15. Mai 2014 nahm der Kläger Akteneinsicht. Am 24. Juni 2014 erinnerte das SG die Beklagte an die Übersendung der Klageerwiderung. Diese ging sodann am 4. Juli 2014 beim SG ein. Am 8. Juli 2014 übersandte das SG diesen Schriftsatz dem Kläger zur Kenntnisnahme und zudem zwei Vordrucke. Mit einem am 14. Juli 2014 beim SG eingegangenen Schriftsatz nahm der Kläger zu den Ausführungen der beklagten Rentenversicherung ...