Leitsatz (amtlich)
1. Die Anmeldung eines Betreuungsbedarfs setzt voraus, dass der Wille des Anspruchstellers bzw. seiner Eltern, den Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII geltend zu machen, hinreichend deutlich hervortritt.
2. Eine rechtzeitig bei der Gemeinde eingegangene Bedarfsanmeldung muss sich der Landkreis als Träger der öffentlichen Jugendhilfe entgegenhalten lassen, denn die Gemeinde ist verpflichtet, die Bedarfsanmeldung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I unverzüglich an den Träger der öffentlichen Jugendhilfe weiterzuleiten, wobei Sinn und Zweck des § 16 SGB I gerade ist, das bedarfsanmeldende Elternteil davor zu bewahren, mit seinem Begehren an den Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung zu scheitern. Diesem Zweck würde eine Auslegung der Regelung nicht gerecht, die es der Gemeinde erlaubte, durch eine unterlassene Weiterleitung des Antrags die Leistungsgewährung zu vereiteln.
3. Der Nachweis eines Betreuungsplatzes erfordert ein aktives Handeln des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe im Sinne eines Vermittelns bzw. Verschaffens.
4. Neben dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes sind bei der Frage der Zumutbarkeit eines Betreuungsplatzes auch die Bedürfnisse seiner Erziehungsberechtigten zu berücksichtigen, wozu auch die Entfernung des Betreuungsplatzes zur Arbeitsstätte gehört.
5. Der in § 839 Abs. 3 BGB normierte Grundsatz der Vorrangigkeit des Primärrechtsschutzes führt nur dann zu einem Ausschluss der Ersatzpflicht, wenn die Bereitstellung eines zumutbaren Betreuungsplatzes durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe erwartet werden kann. Hieran fehlt es, wenn nicht absehbar ist, wann der Träger der öffentlichen Jugendhilfe seiner Bereitstellungs- und Nachweisverpflichtung genügen können wird.
Tenor
Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das am 22.11.2019 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 23.171,11 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.7.2018 zu zahlen.
Der Beklagte wird weiter verurteilt, an die Klägerin 3.266,49 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7.5.2019 zu zahlen.
Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits (erstinstanzliches Verfahren und Berufungsverfahren) hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Gebührenstreitwert des Berufungsverfahrens wird auf 26.437,60 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung in Anspruch, weil der Beklagte ihr im Zeitraum 1.3.2018 bis 13.11.2018 keinen Betreuungsplatz für ihren am XX.XX.2017 geborenen Sohn X zur Verfügung gestellt hat.
Hinsichtlich des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes und der erstinstanzlichen Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 189 ff. d. A.) Bezug genommen.
Mit am 22.11.2019 verkündetem Urteil (Bl. 189 ff. d. A.), dem Beklagten zugestellt am 29.11.2019, hat das Landgericht der Klage überwiegend stattgegeben. Der Klägerin stehe, so das Landgericht, ein Schadensersatzanspruch aus § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG gegen den Beklagten wegen Amtspflichtverletzung in Höhe von 18.633,38 EUR und weiteren 2.626,76 EUR zu. Gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII habe ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet habe, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahrs Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Die sich hieraus ergebende Amtspflicht des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe sicherzustellen, dass für jedes anspruchsberechtigte Kind, für das ein entsprechender Bedarf rechtzeitig angemeldet worden sei, ein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt werde, habe der Beklagte verletzt, denn er habe einen Betreuungsplatz erst verspätet zur Verfügung gestellt. Der Beklagte habe allerdings von dem Betreuungsbedarf der Klägerin erst in einem zwischen dieser und einer Mitarbeiterin des Beklagten am 30.1.2018 geführten Telefongespräch erfahren. Die Klägerin habe nicht zur Überzeugung der Kammer beweisen können, dass der Beklagte bereits zuvor von dem Betreuungsbedarf gewusst habe. Da die Klägerin und ihr Ehemann beide in Vollzeit tätig seien, habe ein Anspruch auf Zurverfügungstellung eines Vollzeitbetreuungsplatzes bestanden. Der Beklagte sei seiner entsprechenden Amtspflicht nicht durch das Anbieten - sofern diese Plätze überhaupt angeboten worden und nicht nur frei gewesen seien - von Betreuungsplätzen bei den drei Tagesmüttern in Ort1, Ort2 und Ort3 nachgekommen. Denn diese drei Plätze se...