Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. häusliche Pflege. Anspruch eines ambulanten Pflegedienstes auf Übernahme der Leistungsvergütung durch den Sozialhilfeträger. Fehlen einer Vereinbarung iS des § 75 Abs 3 SGB 12. keine Entbehrlichkeit nach § 75 Abs 5 SGB 12. Leistungserbringung außerhalb des im Versorgungsvertrag festgelegten Einzugsbereichs. keine Leistungsverpflichtung nach § 75 Abs 4 SGB 12. Fehlen eines verpflichtenden Leistungsangebots. Einstweilige Anordnung
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Pflegedienst bedarf zur Erbringung von Leistungen der Hilfe zur Pflege außerhalb seines im Versorgungsvertrag festgelegten örtlichen Einzugsbereichs (§ 72 Abs 3 S 3 SGB 11) einer Vereinbarung mit dem Sozialhilfeträger nach § 75 Abs 3 SGB 12; eine solche Vereinbarung ist nicht nach § 75 Abs 5 SGB 12 entbehrlich.
2. Der im Versorgungsvertrag festgelegte örtliche Einzugsbereich eines Pflegedienstes ist seit der Neufassung von § 72 Abs 3 S 3 SGB 11 durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (juris: PflegeWEG) vom 28.5.2008 (BGBl I S 874) in jeder Hinsicht verbindlich. Die zur alten Fassung von § 72 Abs 3 S 3 SGB 11 ergangene Rechtsprechung des BSG (vgl Urteil vom 24.5.2006 - B 3 P 1/05 R = BSGE 96, 233 = SozR 4-3300 § 72 Nr 1, RdNr 15 ff) ist überholt.
3. Die Erbringung von Leistungen der Hilfe zur Pflege durch einen Pflegedienst, mit dem eine Vereinbarung weder nach § 75 Abs 3 SGB 12 besteht noch nach § 75 Abs 5 SGB 12 entbehrlich ist, kommt nach § 75 Abs 4 SGB 12 nur in Betracht, wenn der Pflegedienst ein verpflichtendes Leistungsangebot gegenüber dem Sozialhilfeträger abgegeben hat.
Normenkette
SGB XII § 75 Abs. 3-5; SGB XI § 72 Abs. 3 S. 3, § 89 Abs. 2 S. 2; SGG § 86b Abs. 2 S. 2
Tenor
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 28. März 2013 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
III. Dem Beschwerdeführer wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt A… H…, D…, beigeordnet.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Höhe der dem Antragsteller und Beschwerdeführer (Bf.) zustehenden Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Der 1960 geborene und bei der Bahn-BKK krankenversicherte Bf. erlitt 2007 einen Herzinfarkt und liegt seitdem infolge eines hypoxischen Hirnschadens im Wachkoma. Er leidet unter einer spastischen Tetraparese, einer Blasen- und Darminkontinenz, einer Dysphagie mit Notwendigkeit der Sondenernährung sowie einer Atemantriebsstörung mit Apnoepausen. Nach den Feststellungen des Medizinischen Dienstes des Bundeseisenbahnvermögens (MD-BEV) bedarf der Bf. täglich rund um die Uhr, auch nachts, bei allen grundpflegerischen Verrichtungen umfassender Hilfeleistungen (Gutachten vom 17.10.2011: 317 Minuten; Gutachten vom 29.12.2012: 407 Minuten).
Nachdem der Bf. seit Januar 2008 zunächst in einem Pflegeheim untergebracht war, erfolgt seine Pflege seit April 2011 zu Hause, das im Kreisgebiet des Beschwerdegegners (Bg.) liegt. Dort bewohnt der Bf. mit seiner Lebensgefährtin und Betreuerin eine Eigentumswohnung; darüber hinaus verfügen sie über kein nennenswertes Vermögen. Sie beziehen Einkommen, das aus Erwerbsunfähigkeitsrenten, betrieblicher Zusatzversorgung, Einnahmen aus Verpachtung und bis Juni 2012 bei der Lebensgefährtin aus Arbeitslosengeld I bestand.
Seit dem 17.10.2011 wird der Bf. vom beigeladenen Pflegedienst betreut. Mit der Beigeladenen schloss der Bf. am 20.09.2011 einen Pflegeleistungsvertrag über Intensivpflege und Heimbeatmung (hinsichtlich des Vertragsinhalts wird auf Bl. 148ff. der Verwaltungsakten des Bg. Bezug genommen). Seitdem erbringt die Beigeladene für die Bahn-BKK Leistungen der häuslichen Krankenpflege zu einem Stundensatz von 28,50 € (laut Einzelvereinbarung vom 20.02.2012 im Umfang von 21 Stunden und 21 Minuten täglich - vgl. Bl. 94ff. der Gerichtsakten -; eine Anpassung des Umfangs an das Pflegegutachten vom 29.12.2012 kam nicht zustande - vgl. das Vertragsangebot der Bahn-BKK auf Bl. 103ff. der Gerichtsakten). Ferner erbringt die Beigeladene zulasten der Bahn-BKK-Pflegekasse Pflegesachleistungen nach der Pflegestufe III - Härtefall - in Höhe von monatlich 1.918,00 €.
Hinsichtlich des von der Pflegeversicherung nicht abgedeckten Hilfebedarfs beantragte der Bf. beim Bg. Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII. Mit Bescheid vom 30.03.2012 gab der Bg. dem Antrag für die Zeit vom 17.10.2011 bis 12.01.2012 statt und gewährte Leistungen in Höhe von insgesamt 2.220,00 €; bei der Berechnung der Leistungen legte der Bg. einen grundpflegerischen Hilfebedarf von täglich 317 Minuten sowie einen Stundensatz von 28,50 € zugrunde und zog davon Pflegeversicherungsleistungen von monatlich 1.918,00 € ab. Für die Zeit ab dem 13.01.2012 lehnte der Bg. die Leistungsgewährung unter Hinweis auf vorrangig einzusetzendes Einkommen des Bf. und seiner Lebensgefährtin ab. Dem widersprach ...