Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege. Nachtassistenz. Zuständigkeit des erstangegangenen Rehabilitationsträgers. nur bei Antrag auf Teilhabeleistungen. sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers. Sachsen. Abgrenzung zwischen stationärer Unterbringung und ambulant betreuten Wohnmöglichkeiten. Leistungserbringung durch einen nicht vereinbarungsgebundenen Leistungserbringer. Höhe der Vergütung. Verpflichtendes Leistungsangebot. Einstweilige Anordnung. Eilbedürftigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Anspruch auf Nachtassistenz kommt einerseits als Hilfe zur Pflege (in Gestalt einer anderen Verrichtung iS des § 61 Abs 1 S 2 SGB 12) und andererseits als Eingliederungshilfe in Betracht.
2. Zur Abgrenzung zwischen stationärer Unterbringung und Formen des ambulant betreuten Wohnens.
3. Die Erbringung von Leistungen durch einen nicht vereinbarungsgebundenen Leistungserbringer kommt nach § 75 Abs 4 SGB 12 nur in Betracht, wenn der Leistungserbringer ein Leistungsangebot vorgelegt hat, das die Voraussetzung des § 76 SGB 12 erfüllt, und sich gegenüber dem Sozialhilfeträger schriftlich verpflichtet hat, Leistungen entsprechend diesem Angebot zu erbringen (Festhaltung an LSG Chemnitz vom 18.10.2013 - L 8 SO 35/13 B ER).
4. Zu den Leistungen zur Teilhabe, für die die Zuständigkeitsregelung des § 14 SGB 9 gilt, zählt die Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des SGB 12 nicht.
Orientierungssatz
Ist ein Vergleich iS des § 75 Abs 4 S 3 SGB 12 mit den Vergütungen anderer Leistungserbringer nicht möglich, weil kein vertraglich gebundener Leistungserbringer vergleichbare Leistungen erbringt, ist die tatsächliche Vergütung des nicht vertragsgebundenen Leistungserbringers zu übernehmen.
Normenkette
SGB IX §§ 14, 55 Abs. 2 Nr. 6; SGB XII § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1, § 61 Abs. 1 S. 2, § 75 Abs. 4, § 76; SGB XI § 13 Abs. 3a, § 45b; SGG § 86b Abs. 2
Tenor
I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 22. Dezember 2014 abgeändert und der Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab 16. Januar 2015, längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen einer passiven Nachtassistenz in Höhe von maximal 50,54 € je Anwesenheitstag nach Rechnungslegung zu gewähren.
II. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Streitig ist die vorläufige Erbringung einer Nachtassistenz als Leistung der Eingliederungshilfe oder der Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Der 1991 geborene Antragsteller leidet an einem angeborenen Fehlbildungssyndrom (Smith-Lemli-Opitz-Syndrom), das sich in einer hochgradigen statomotorischen und geistigen Entwicklungsretadierung, einer spastischen Tetraparese und autistischen Verhaltensmustern ausdrückt. Er verfügt über kein Sprachvermögen, leidet unter Inkontinenz und ist in seiner Gehfähigkeit stark eingeschränkt. Er ist schwerbehindert (Grad der Behinderung GdB von 100, Merkzeichen B, G, aG, H und RF) und bezieht Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III. Nach den Feststellungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) bedarf der Antragsteller täglich rund um die Uhr, auch nachts, bei allen grundpflegerischen Verrichtungen umfassender Hilfeleistungen.
Der Antragsteller lebte seit seiner Geburt bei seinen Eltern. Nach dem Besuch einer Förderschule wurde er Mitte 2010 in den Förderbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) aufgenommen. Im Juni 2012 zog er in eine Wohngemeinschaft für mehrfach schwerstbehinderte Erwachsene, die im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners, eines örtlichen Sozialhilfeträgers, liegt und von der Beigeladenen zu 2., die einen Pflegedienst betreibt, betreut wird. Mit dieser schloss der Antragsteller am 16.06.2012 einen Pflegevertrag und am 12.07.2012 eine zugehörige Leistungsvereinbarung ab, die beide ab dem 09.06.2012 gelten sollten; darin war unter anderem eine Vergütung für die Nachtassistenz von 31,50 € je Nacht (7 Stunden) vorgesehen. Diese Vergütung wurde mit Vertrag vom 26.01.2013 ab 01.01.2013 auf 49,98 € je Nacht und mit Vertrag vom 03.03.2014 ab 01.01.2014 auf 50,54 € je Nacht erhöht.
Der Antragsteller drängte zunächst gegenüber seiner Pflegekasse auf die Bewilligung eines trägerübergreifenden persönlichen Budgets. Als die dafür erforderliche Zielvereinbarung wegen der Weigerung des Antragsgegners, die Kosten für eine Nachtassistenz zu übernehmen, nicht zustande gekommen war, beantragte der Antragsteller stattdessen am 29.11.2012 beim Antragsgegner die Gewährung aller in Betracht kommenden Leistungen nach dem SGB XII als Einzelleistung. Während der Antragsgegner von der sozialen Pflegeversicherung nicht gedeckte Pflegesachleistungen übernahm (Bescheid vom 18.12.2012, Widerspruchsbescheid vom 14.03.2013) und ein Pflegegeld bewilligte (Bescheid 19.12.2012, Widerspruchsbescheid vom ...