Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung des Beschlusses über den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Ablauf der Monatsfrist
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Beschluss über den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist im Beschwerdeverfahren nach Ablauf der Monatsfrist aus § 86b Abs 2 S 4 SGG iVm § 929 Abs 2 ZPO wegen der Unstatthaftigkeit der Vollziehung aufzuheben (Fortführung des Beschlusses vom 24.1.2008 - L 3 B 610/07 AS-ER).
2. Es ist nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen, insbesondere im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes, geboten, die Verweisungsregelung in § 86b Abs 2 S 4 SGG "verfassungskonform" dahingehend auszulegen, dass die Regelung des § 929 Abs 2 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren überhaupt nicht oder nur mit Modifikationen anzuwenden ist.
Tenor
I. Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichtes Dresden vom 25. April 2008 aufgehoben.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten.
Gründe
I. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der angegriffene Beschluss des Sozialgerichtes ist aufzuheben, weil aus ihm nicht mehr vollstreckt werden kann.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 929 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) ist die Vollziehung des Beschlusses über die Anordnung der einstweiligen Anordnung unstatthaft, wenn seit dem Tag, an dem der Beschluss verkündet oder der Partei, auf deren Antrag er erging, zugestellt ist, ein Monat verstrichen ist. Diese Voraussetzungen sind gegeben.
Der Beschluss des Sozialgerichtes Dresden vom 25. April 2008 ist dem Antragsteller am 29. April 2008 zugestellt worden. Der Antragsgegner hat die in diesem Beschluss angeordneten Leistungen, die den Leistungszeitraum vom 1. Februar 2008 bis 31. Juni 2008 betrafen, nicht erbracht. Er hat der einstweiligen Anordnung auch nicht Folge geleistet, nachdem das Sozialgericht mit Beschluss vom 22. Mai 2008 den Antrag gemäß § 175 Satz 3 SGG auf einstweilige Aussetzung des Vollzugs abgelehnt hat.
Nach den vorliegenden Unterlagen hat der Antragsteller nicht innerhalb der Monatsfrist Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet. Für die Wahrung der Monatsfrist in § 929 Abs. 2 ZPO reicht es nach der herrschenden Meinung in der zivilprozessrechtlichen Rechtsprechung und Kommentarliteratur aus, dass die Vollstreckung bei der zuständigen Stelle innerhalb der Frist beantragt worden ist. Denn dann hat der Vollstreckungsgläubiger mit der Antragstellung alles getan, was ihm möglich ist, und er soll keine Nachteile aus der Dauer des Vollstreckungsverfahrens haben (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1990 - IX ZR 211/89 - BSGE 122, 356 [359] und Beschluss vom 15. Dezember 2005 - 1 ZB 63/05 - NJW 2006, 1290; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung [28. Aufl., 2007], § 929 RdNr. 4. Vgl. auch: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung [66. Aufl., 2008], § 929 RdNr. 7). Einen solchen Antrag hat der Antragsteller innerhalb der Monatsfrist nicht gestellt. Vielmehr hat er noch mit Schreiben vom 27. Juni 2008 gegenüber dem Antragsgegner die Umsetzung der einstweiligen Anordnung angemahnt und gleichzeitig angekündigt, die Vollstreckung betreiben zu wollen. Bei der Vollstreckungsankündigung handelt es sich aber nicht um einen Vollstreckungsantrag im oben beschriebenen Sinn. Auch mit dem Antrag vom 13. Mai 2008 auf Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung (vgl. § 724 ZPO) ist die Monatsfrist nicht gewahrt. Denn bei diesem Antrag handelt es sich lediglich um die Vorbereitung der Vollstreckung, nicht jedoch um einen Vollstreckungsantrag.
Damit ist die Vollstreckung aus dem Beschluss unstatthaft mit der Folge, dass der Beschluss aufzuheben ist (vgl. SächsLSG, Beschluss vom 24. Januar 2008 - L 3 B 610/07 AS-ER - JURIS-Dokument Rdnr. 2, m.w.N.).
Soweit eingewandt wird, dass § 929 ZPO nach ihrer ursprünglichen, gesetzgeberischen, der Zivilprozessordnung zugrunde liegenden Konzeption regelmäßig zwischen zwei privaten Parteien anzuwenden gewesen sei und die Situation im sozialgerichtlichen Verfahren anders sei (vgl. SächsLSG, Beschluss vom 22. April 2008 - L 2 B 111/08 - JURIS-Dokument Rdnr. 14), steht dies einer Anwendbarkeit von § 929 Abs. 2 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren nicht entgegen. Denn ob eine Entscheidung des Gesetzgebers, eine Regelung aus einem Rechtsgebiet unmittelbar oder mittelbar im Wege der Verweisung in ein anderes Rechtsgebiet zu übernehmen, sachgerecht ist, ist eine rechtspolitische Frage. Erwägungen über Sinn und Zweck einer Regelung können aber in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der eindeutige Wortlaut der Regelung keinen Ansatzpunkt für eine Auslegung bietet, im Rahmen einer gerichtlichen Entscheidung nicht angestellt werden.
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