Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. barrierefreier Zugang zum Gericht. kein Anspruch auf fernschriftliches Online-Chat-Verfahren anstelle einer mündlichen Verhandlung. UN-Behindertenrechtskonvention. Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Asperger-Syndrom. kein rückwirkender GdB ab Geburt ohne Teilhabebeeinträchtigung. Merkzeichen

 

Orientierungssatz

1. Eine mündliche Verhandlung in Form eines Online-Chats über mehrere Wochen sieht das SGG nicht vor.

2. Ein Asperger-Syndrom führt nicht ohne Weiteres auch zu einer Feststellung eines Grads der Behinderung (GdB) ab Geburt, wenn sich eine Teilhabebeeinträchtigung im entsprechend vergangenen Zeitraum nicht feststellen lässt.

3. Zu den Voraussetzungen für die Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung), B (Begleitperson), H (Hilflosigkeit) und RF (Rundfunkbeitragsermäßigung).

 

Nachgehend

BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 27.11.2018; Aktenzeichen 1 BvR 957/18)

BSG (Beschluss vom 21.12.2017; Aktenzeichen B 9 SB 61/17 B)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 28.07.2011 abgeändert. Der Beklagte wird entsprechend seines Teilanerkenntnisses vom 24.11.2015 unter Abänderung des Bescheides vom 01.02.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2007 verurteilt, bei dem Kläger ab dem 15.08.2012 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 festzustellen.

II. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 28.07.2011 zurückgewiesen.

III. Notwendige außergerichtliche Kosten des Klägers hat der Beklagte dem Kläger nicht zu erstatten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) ab Geburt, eines höheren GdB als 50 ab Antragstellung, eines höheren GdB als 70 ab 15.08.2012 und die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzung für die Merkzeichen G, B, H und R.

Der 1976 geborene Kläger beantragte am 06.09.2006 beim damals zuständigen Amt für Familie und Soziales Chemnitz die Feststellung von Behinderungen nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX).

Nach Einholung eines Befundberichtes der Psychiaterin Dr. C. vom 13.09.2006 stellte das Amt für Familie und Soziales Chemnitz mit Bescheid vom 01.02.2007 ab dem 06.09.2006 einen GdB von 50 wegen Autismus fest und lehnte die Zuerkennung von Merkzeichen ab. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein und fügte eine Stellungnahme der Psychiaterin Dr. C. bei. Im Schreiben vom 06.02.2007 führte diese aus, dass der Kläger unter einer angeborenen seelischen Erkrankung leide, welche insbesondere sein sozialkommunikatives Verhalten einschränke. Es falle ihm schwer, mit Menschen direkt Kontakt aufzunehmen. Man solle ihm die Möglichkeit einräumen, Angelegenheiten mit Behörden ausschließlich schriftlich zu erledigen. In ihrem weiteren Befundbericht vom 20.03.2007 führt sie aus, dass der Kläger im öffentlichen Verkehr ständige Begleitung benötige, da er diesbezüglich eine schwache Selbsteinschätzung habe. Am öffentlichen Verkehr nehme er jedoch kaum teil. Im Ablauf eines jeden Tages benötige er nicht dauernd fremde Hilfe, da diese ihm ohnehin nicht erträglich sei. Es falle ihm schwer, mit Behörden und Ämtern Kontakt aufzunehmen, er hoffe immer auf Regelungen, bei welchen er nicht persönlich anwesend sein müsse.

In der versorgungsärztlichen Stellungnahme führt DM Z. am 04.07.2007 aus, dass eine abschließende Beurteilung nach Aktenlage nicht möglich sei. Nervenärztlich sei ein Asperger -Syndrom, eine Form des frühkindlichen Autismus, bestätigt. Für die sichere Beurteilung fehlten aber wichtige anamnestische Informationen. Der Kläger müsse Unterlagen zu seinem persönlichen und beruflichen Lebensweg wie Zeugnisse, Beurteilungen und sonstige Beobachtungen vorlegen. Einer entsprechenden Aufforderung vom 20.06.2007 sei der Kläger nicht nachgekommen. Mit Schreiben vom 31.08.2007 teilte der mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragte Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Y. mit, dass der Kläger eine persönliche Untersuchung ablehne. Der psychiatrische Befundbericht von Dr. C. enthalte keinen aussagekräftigen psychischen Befund, der es ermögliche, ein Gutachten nach Aktenlage zu erstellen.

Unter Berücksichtigung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme der Ärztin X. vom 29.08.2007 wies das Sächsische Landesamt für Familie und Soziales den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2007 zurück. Die rückwirkende Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch und die Feststellung der Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B, RF und H sei aufgrund der wenigen vorliegenden Befunde nicht möglich.

Hiergegen hat der Kläger am 08.10.2007 Klage zum Sozialgericht Chemnitz erhoben (SG) und die rückwirkende Feststellung der Merkzeichen G, B, H und RF sowie die Feststellung eines GdB ab seiner Geburt und eines höheren GdB als 50 ab 06.09.2006 geltend gemacht. Künftig sei mit ihm barrierefrei zu ...

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