Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung für den Erlass eines Gerichtsbescheides im sozialgerichtlichen Verfahren um die Feststellung eines Grades der Behinderung. Umfang der Pflicht zur Amtsermittlung
Orientierungssatz
1. Ein Gerichtsbescheid kommt im sozialgerichtlichen Verfahren über die Feststellung eines Grades der Behinderung nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn der Sachverhalt auch in medizinischer Hinsicht geklärt ist. Dabei ist ein Sachverhalt erst dann als geklärt anzusehen, wenn Zweifel hinsichtlich des Sachverhalts ausgeschlossen sind, insbesondere auch die Feststellungen zu Gesundheitsbeeinträchtigungen und den daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen abschließend geklärt sind.
2. Kann den Verwaltungsakten in einem Verfahren über die Festsetzung eines Grades der Behinderung nicht entnommen werden, in welchem Maße und Umfang bestimmte Gesundheitsbeeinträchtigungen zu konkreten Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Betroffenen führen, so muss das Sozialgericht den Sachverhalt von Amts wegen weiter aufklären, insbesondere durch die Einholung von entsprechenden Sachverständigengutachten.
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 4. September 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Chemnitz zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "G".
Bei der am ... 1958 geborenen Klägerin hat die Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 2. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Kommunalen Sozialverbandes Sachsen vom 7. Oktober 2009 einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 und das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" festgestellt. Die Feststellung des Vorliegens anderer Merkzeichen wurde abgelehnt.
Am 28. Februar 2013 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Feststellung der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "GL".
Zur Begründung legte sie verschiedene Unterlagen vor:
- Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 15. Januar 2011 (S 19 R 1949/07) - Ausurteilung der Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab 1. März 2003
- Arztbrief Dr. L. vom 6. März 2012, Diagnosen u. a. 25. Mai 2011 Polyarthralgie, 13. September 2011 Hämangiom (Leber), Nephrolithiasis links, 6. März 2012 Polyarthralgie
- Auszug eines Arztbriefes des Ambulanten Praxiszentrums im MVZ P. Dr. N. Chemnitz vom 1. März 2012
- Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Pflegefachkraft E. (MDK Sachsen) vom 5. Dezember 2011 (Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege 50 Minuten pro Tag)
- vom Sozialgericht Chemnitz in Auftrag gegebenes nervenfachärztliches Gutachten bei Dr. G. (Facharzt für Neurologie/Psychiatrie - Krankenhaus D.) vom 7. Juni 2010 - in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen S 19 R 1949/07
- Arztbrief Dipl.-Med. S. (Fachärztin für Urologie - Z. B. C. vom 11. Dezember 2007; Diagnosen: mittlerer Nierenkelchstein links (DD: Verkalkung), Hypertonie, laufende Schilddrüsendiagnostik
- Arztbrief Dr. E. (Fachärztin für Urologie - Z. B. C.) und Facharzt für Urologie B. (Z. B. C.) vom 8. November 2007; Diagnose: mittlerer Kelchstein links
- neurologisch-psychiatrisches Fachgutachten von Dr. R. (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in C.) vom 9. Februar 2007 für die DRV Bund.
Befundberichte wurden eingeholt von Frau Dipl.-Med. B. (Fachärztin für HNO-Heilkunde in C.), die von einer mittel- bis hochgradigen kombinierten Schwerhörigkeit rechts und einer Taubheit links nach Cholesteatom-OP 1995 berichtete (prozentualer Hörverlust rechts 87 % und links 100 % - ermittelt aus dem Tonaudiogramm). Aufgrund des Hörverlustes klage die Klägerin über Tinnitus beidseits. Die Hausärztin der Klägerin (Frau Dipl.-Med. St., C.) berichtete unter dem 24. April 2013 vom Vorliegen einer therapieresistenten Konversionsstörung mit psychogener Lähmung des rechten Armes, maximaler Inaktivitätsatrophie des gesamten Armes. 2 km Gehstrecke in einer halben Stunde sollten zurückzulegen sein.
Für den Ärztlichen Dienst schätzte Frau Dipl.-Med. Z. unter dem 13. Juni 2013 einen Gesamt-GdB von 90 ein. Das Merkzeichen "G" stehe der Klägerin nicht zu, die Gehfähigkeit sei nicht beeinträchtigt. Es bestehe auch keine Gehörlosigkeit.
Mit Bescheid vom 3. September 2013 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Es wurde weiterhin ein GdB von 90 festgestellt und das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF". Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "GL" und "G" sowie der übrigen Merkzeichen lägen nicht vor.
Die Wegstrecke, die von der Klägerin noch zurückgelegt werden könne, sei durch eine das Gehen betreffende Behinderung nicht im erforderlichen Ausmaß eingeschränkt. Bei ihr bestünden folgende Funktionseinschränkungen:
1. Schwerhörigkeit rechts, Taubheit links, Radikaloperationshöhle links, Ohre...