Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Arzneikostenregress. sonstiger Schaden gemäß § 48 Abs 1 BMV-Ä. Verschulden nicht nur bei Arzneimittelverordnung trotz positiver Kenntnis vom stationären Aufenthalt. Vertragsarzt hat auch Fahrlässigkeit zu vertreten. Nachfragepflicht. hier: Folgeverordnung eines Arzneimittels zur Behandlung einer chronisch-progredienten Multiplen Sklerose während stationärer medizinischer Rehabilitationsmaßnahme durch Rentenversicherungsträger
Leitsatz (amtlich)
1. Das für einen Regress wegen eines sonstigen Schadens gemäß § 48 Abs 1 BMV-Ä erforderliche Verschulden liegt nicht nur bei Arzneimittelverordnung trotz positiver Kenntnis vom stationären Aufenthalt des versicherten Patienten vor; vielmehr hat der Vertragsarzt auch Fahrlässigkeit zu vertreten.
2. Zwar besteht keine generelle Pflicht der Vertragsärzte, sich vor jeder Verordnung von Arzneimitteln zu vergewissern, dass sich der versicherte Patient nicht in stationärer Behandlung befindet. Doch können sich im Einzelfall Anhaltspunkte für eine Nachfragepflicht ergeben, dies insbesondere dann, wenn der versicherte Patient nicht selbst um das Rezept nachsucht und das bei einer Dauermedikation übliche Verordnungsintervall nicht eingehalten wird.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Beigeladenen zu 1 gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 25. November 2015 wird zurückgewiesen.
II. Die Beigeladene zu 1 und der Beklagte tragen die Kosten des Berufungsverfahrens je zur Hälfte mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2 und 3, die diese selbst tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert wird auch für das Berufungsverfahren auf 1.513,46 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Ausgleich eines sonstigen Schadens im Sinne von § 48 Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV-Ä) wegen vertragsärztlicher Verordnung eines Arzneimittels während einer stationären medizinischen Rehabilitationsmaßnahme.
Die Beigeladene zu 1 nimmt als Fachärztin für Neurologie an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Seit dem Jahr 2003 betreut sie einen bei der klagenden Krankenkasse versicherten Patienten, der unter anderem an einer chronisch-progredienten Multiplen Sklerose und einem reaktiven depressiven Syndrom leidet. Der Versicherte hielt sich vom 13.01.2009 bis 27.02.2009 zu einer ihm von der Deutschen Rentenversicherung Bund bewilligten stationären medizinischen Rehabilitationsmaßnahme in der Rehabilitationsklinik der Beigeladenen zu 3 auf. Laut Entlassungsbericht vom 27.02.2009 waren dort die Diagnosen Enzephalomyelitis disseminata mit schubförmigem Verlauf, Fatigue-Syndrom und reaktives depressives Syndrom gestellt worden.
Während des stationären Aufenthalts in der Rehabilitationsklinik verordnete die Beigeladene zu 1 am 27.01.2009 auf vertragsärztlichem Verordnungsvordruck das Interferonpräparat Avonex 30 µg Luer Lock N2 4 Fertigspitzen (1.572,45 EUR) sowie das Antiepileptikum Gabapentin-Neurax 400 mg N1 50 Kapseln (32,50 EUR). Die Klägerin wurde nach Abzug der gesetzlichen Zuzahlung (10,00 EUR), des gesetzlichen Rabatts (76,78 EUR) und des vertraglichen Rabatts gemäß § 130a Abs. 8 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) für Gabapentin (4,71 EUR) vom Rezeptbetrag (1.604,95 EUR) mit Nettoverordnungskosten in Höhe von 1.513,46 EUR belastet.
Am 09.03.2010 beantragte die Klägerin die Prüfung gemäß Anlage 6 der Prüfungsvereinbarung Sachsen zur Festsetzung eines Regresses gegen die Beigeladene zu 1 wegen der Arzneimittelverordnung vom 27.01.2009. Diese sei während eines stationären Aufenthalts ausgestellt und eingelöst worden. Die Kosten der Arzneimittel seien jedoch von den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation umfasst.
Mit Schreiben vom 07.06.2010 teilte die Beigeladene zu 1 mit, der Versicherte sei seit 2003 in ihrer ambulanten neurologischen Behandlung. Er sei sehr zuverlässig und komme regelmäßig in die Sprechstunde. Gelegentlich komme es vor, dass die Ehefrau das Rezept abhole, wenn der Versicherte sich nicht wohl fühle. Im November 2008 sei wegen einer erneuten Verschlechterung der Wegstrecke eine Einweisung in ein Krankenhaus erfolgt. Am 08.12.2008 habe sich der Patient nach dem Krankenhausaufenthalt vorgestellt. Daraufhin sei eine Terminvergabe für März 2009 erfolgt. Am 12.01.2009 habe sich der Patient ein Avonex-Rezept mit nur kurzem Kontakt abgeholt. Am 27.01.2009 sei eine erneute Verordnung erfolgt. Die Ehefrau habe das Rezept abgeholt, was kein Grund zu besonderen Fragestellungen dargestellt habe. Erst als der Versicherte am 09.03.2019 zum planmäßigen Termin erschienen sei, habe sie - die Beigeladene zu 1 - von der Rehabilitationsmaßnahme in der Rehabilitationsklinik der Beigeladenen zu 3 erfahren. Die Ehefrau des Versicherten habe im Nachgang erklärt, sie sei von Mitarbeitern der Rehabilitationsklinik aufgefordert worden, die Medikamente für die Dauer des stationären Aufenthaltes des Versicherten selbst zu organi...