Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe für Ausländer. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsausschluss bei Einreise zum Zweck des Sozialhilfebezugs. Anwendbarkeit der Rückausnahme nach § 23 Abs 3 S 7 SGB 12. Aufenthaltsverfestigung. Überbrückungsleistungen. Ausreisebereitschaft
Orientierungssatz
1. Der Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 Nr 4 SGB 12 aF verlangt einen finalen Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss des Ausländers und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe (vgl BVerwG vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 = BVerwGE 90, 212 = juris RdNr 11).
2. Dieser erforderliche Zusammenhang besteht nicht nur, wenn der Wille, Sozialhilfe zu erlangen, der einzige Einreisegrund ist. Beruht die Einreise auf verschiedenen Motiven, ist das Erfordernis des finalen Zusammenhangs auch erfüllt, wenn der Zweck der Inanspruchnahme von Sozialhilfe für den Einreiseentschluss von prägender Bedeutung ist (vgl BVerwG vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 aaO = juris RdNr 12 ).
3. Die Rückausnahme des § 23 Abs 3 S 7 SGB 12 greift nicht, sofern der Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 Nr 4 SGB 12 aF bzw § 23 Abs 3 S 1 Nr 3 SGB 12 nF einschlägig ist.
4. Voraussetzung für die Gewährung von Überbrückungsleistungen ist immer eine Ausreisebereitschaft und der erkennbare Wille, jedenfalls auch diese Leistungen zu erhalten.
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 15. Januar 2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1956 geborene und alleinstehende Klägerin ist tschechische Staatsbürgerin. Sie war ausweislich der vorgelegten Meldebestätigung vom 16. Oktober 2017 zwei Wochen zuvor (am 2. Oktober 2017) von Y./Tschechien nach A. umgezogen, wo ihre Tochter mit ihrem Ehemann und dem Enkelkind lebt. Die Klägerin bezog seinerzeit eine Altersrente von dem zuständigen tschechischen Rentenversicherungsträger von 8.748 CSK (umgerechnet rund 330 Euro) monatlich. Mit dem Hinweis darauf, dass sie mit ihrer Rente "nicht überleben" könne, beantragte die Klägerin auf dem am 1. September 2017 ausgegebenen Vordruck mit Schreiben vom 12. Oktober 2017 Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Ihre Tochter habe sie zu sich nach Deutschland geholt, weil die Klägerin in Tschechien keine Angehörigen mehr gehabt habe. Da die Familie ihrer Tochter auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) angewiesen sei, hätte diese oft kein Geld für eine Besuchsfahrt zur Klägerin nach Y./Tschechien gehabt. Mit ihrer Rente sei die Klägerin lediglich dazu in der Lage, die monatlichen Kosten der vom 1. Oktober 2017 an gemieteten, 45 qm großen 2-Zimmer-Wohnung in A. zu tragen, die sich ausweislich des vorgelegten Mietvertrages auf insgesamt 300 Euro beliefen. Für den Lebensunterhalt bleibe damit nichts mehr übrig. Über weitere Einkünfte und Vermögenswerte verfügte die Klägerin nach eigenem Vortrag nicht.
Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin ab (Bescheid vom 11. April 2018), da diese nicht freizügigkeitsberechtigt sei nach § 2 Abs. 2 des Freizügigkeitsgesetzes/EU. Dagegen legte die Klägerin am 18. April 2018 Widerspruch ein. Sie sei Unionsbürgerin. Ihre Familienangehörigen verfügten über ein Daueraufenthaltsrecht in Deutschland. Sie selbst sei bei einer tschechischen Krankenkasse versichert, weshalb sie in Deutschland jeden Arzt aufsuchen könne. Die Klägerin legte zudem eine Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See "Minijob-Zentrale" vom 24. Februar 2018 vor. Demnach war sie seit Oktober 2017 geringfügig als Haushaltshilfe beschäftigt. Nach den beigefügten Quittungen erzielte die Klägerin einen monatlichen Arbeitsverdienst von 150 Euro. Sie sei mit ihrem tschechischen Pass eingereist. Sie sei nicht ausreisepflichtig, da die zuständige Ausländerbehörde bisher nicht festgestellt habe, dass die Klägerin nicht freizügigkeitsberechtigt sei. Darüber hinaus sei ihr Aufenthalt in Deutschland inzwischen derart verfestigt, dass der Beklagte Leistungen der Sozialhilfe zu gewähren habe.
Der Beklagte erließ am 11. September 2018 den Widerspruchsbescheid. Die Klägerin sei nicht freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Freizügigkeitsgesetz/EU. An dieser Einschätzung ändere sich auch deshalb nichts, weil die Klägerin auf die Anfrage des Beklagten vom 12. Juni 2018 nicht reagiert habe. Da diese somit nicht freizügigkeitsberechtigt sei, sei die Klägerin von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen (Bezug auf § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB XII).
Dagegen hat sich die am 18. September 2018 vor dem Sozialgericht Chemnitz erhobene Klage gerichtet. Zur Begründung hat sie sich auf ihre Argumente im Widerspruch bezogen. Den daneben beantragten Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das Sozialgericht Chemnitz abgelehnt (Beschluss vom 19. Oktober 2018 -S 21 SO 228/18 ER), da die Klägerin lediglich zum Zweck des Bezugs von Leistungen der Sozialhilfe nach Deut...