Entscheidungsstichwort (Thema)
Grad der Behinderung ab Geburt. Funktionsbeeinträchtigung. Tiefgreifende Entwicklungsstörung. Frühkindlicher Autismus. Soziale Anpassungsschwierigkeiten. Medizinische Beweiswürdigung
Leitsatz (redaktionell)
Die Feststellung eines Grades der Behinderung wegen eines frühkindlichen Autismus ist rückwirkend ab der Geburt möglich, wenn sich bereits ab Geburt hinreichend gesichert besondere Auffälligkeiten zeigen, die nach dem Stand der Wissenschaft als frühe Kennzeichen für einen Autismus zu werten sind.
Normenkette
SGB IX § 69 Abs. 1, § 2 Abs. 1 S. 1; BVG § 30 Abs. 1, 16
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 6. Mai 2013 vollumfänglich und der Bescheid des Beklagten vom 21. Juni 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juli 2011 teilweise aufgehoben und der Beklagte verurteilt, einen GdB von 50 ab dem 2. Juni 2006 festzustellen.
II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die rückwirkende Anerkennung des bisher festgestellten Grades der Behinderung (GdB) ab Geburt streitig.
Bei dem 2006 geborenen Kläger wurde am 23.02.2010 eine autistische Störung diagnostiziert.
Auf seinen Erstantrag vom 01.12.2010 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 16.02.2011 eine Behinderung und ab dem 23.02.2010 einen GdB von 30 sowie das Merkzeichen "H" fest. Im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt. Auf den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers, mit welchem er einen höheren GdB ab Geburt anstrebte, wurde mit Teilabhilfebescheid vom 21.06.2011 ab dem 23.02.2010 ein GdB von 50 festgestellt. Im Übrigen wurde der Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 08.07.2011 als unbegründet zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger am 10.08.2011 Klage zum Sozialgericht Dresden (SG) erhoben, mit welchem er die rückwirkende Anerkennung eines GdB 50 v.H. ab Geburt begehrt. Dieses hat die Befundberichte der behandelnden Kinderärztin Dr. E. sowie des Universitätsklinikums W. in B. beigezogen und die Klage mit Gerichtsbescheid vom 06.05.2013 abgewiesen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe mit Urteil vom 07.04.2011 (B 9 SB 3/10 R) entschieden, dass für die behördliche Erstfeststellung, dass ein GdB von 50 bereits zu einem Zeitpunkt vor der Antragstellung vorgelegen habe, die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erforderlich sei. Ein solches besonderes Interesse habe der Beklagte bereits angenommen, als er die Feststellungen eines GdB bereits ab dem 23.02.2010 bejahte. Eine weitergehende Rückwirkung komme jedoch nicht in Betracht, da es vor dem 23.02.2010 am Nachweis einer Funktionsbehinderung im Sinne des § 69 Abs. 1 SGB IX i. V. m. § 2 Abs. 1 und 2 SGB IX fehle. Zwar liege zur Überzeugung der Kammer ein angeborener Autismus vor, welcher am 23.02.2010 diagnostiziert sei. Der Autismus sei eine regelwidrige Funktionsbeeinträchtigung geistiger Art und äußere sich in Verhaltensstörungen und/oder Verhaltensauffälligkeiten in Form schwerer Kontakt- und Kommunikationsstörungen, einer aufgehobenen oder verzögerten Sprachentwicklung, repetitiven, restriktiven oder stereotypen Verhaltensmustern, häufig in einer Intelligenzminderung und unspezifischen Symptomen wie Wut, Angst, Aggressivität und/oder Selbstverletzung. Das Sozialgericht Karlsruhe habe in seinem Urteil vom 15.02.2013 (S 1 SB 1094/12 - Juris) ausgeführt, dass bei autistischen Erkrankungen eine Behinderung im Sinne des SGB IX erst ab Beginn der Teilhabebeeinträchtigung vorliege. Soziale Anpassungsschwierigkeiten lägen danach insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche, wie z. B. Kindergarten, Schule oder allgemeiner Arbeitsmarkt nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung gegeben sei. Dabei sei die angeborene Störung nicht automatisch ab der Geburt bzw. ab einem bestimmten Lebensalter feststellbar. Maßgebend sei vielmehr, ab welchem Zeitpunkt die Autismus-Erkrankung manifest geworden, das heißt, diese Erkrankung tatsächlich in Erscheinung getreten sei. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Diagnose einer Autismus-Erkrankung regelmäßig nicht vor dem 18. Lebensmonat gestellt werden könne.
Gegen den am 22.05.2013 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger mit Schriftsatz vom 17.06.2013 Berufung zum Sächsischen Landessozialgericht eingelegt.
Der Kläger sei von Geburt an auffällig gewesen. Ab dem zweiten Lebensmonat habe er Physiotherapie erhalten. Sofort nach der Geburt sei ein Makrozephalus festgestellt worden. Bereits im siebten Lebensmonat habe er keine Reaktion auf Geräusche gezeigt. Bereits in den ersten Wochen habe er eine Trinkschwäche aufgewiesen. Auch später sei das freie Sitzen und Krabbeln deutlich verzögert gewesen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 6. Mai 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 21. Juni 2011 und den Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 2011 teilweise aufzuheben und den Beklagten zu verurte...