Rz. 4
Abs. 1 ist als Leitsatz für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zu verstehen, zugleich aber auch als Wiedergabe des Auftrags der Verfassung. Es handelt sich um einen Programmsatz. Unmittelbare Leistungsansprüche können aus dieser Vorschrift daher nicht abgeleitet werden. Das trifft auch schon auf die Garantie der Menschenwürde im Grundgesetz zu. Das bedeutet aber nicht, dass deswegen Leistungen an Leistungsberechtigte unterhalb des Existenzminimums als ausreichend angesehen werden dürften. Die Vorschrift lehnt sich an die bereits bestehende Regelung des § 1 Abs. 1 SGB XII an. Die Vorschrift umschreibt im Übrigen den Grundsatz des Forderns und Förderns, der das gesamte Gesetz prägt, ohne die Begriffe selbst in den Vorschriften zu verwenden, sondern nur in Überschriften (vgl. Kapitel 1 oder §§ 2, 14). Ihnen sind gesonderte Vorschriften gewidmet (§§ 2 und 14).
Rz. 4a
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende hat in Deutschland eine neue Diskussion über Reichtum und Armut sowie den gesellschaftlichen Konsens über den Sozialstaat hervorgerufen. Der Abbau und die Kürzung von Sozialleistungen verschärften Verteilungskonflikte. Steuer- und Beitragszahler stehen den Sozialleistungsempfängern gegenüber. Die Diskussion ist umso heftiger ausgefallen, je mehr die Haushaltslage des Bundes und der Länder sich verschlechtert hat und Forderungen nach weiteren Einschnitten erhoben wurden. Die politischen Modelle weisen dem Staat Aufgaben in unterschiedlichem Umfang zu, von der staatlichen Intervention bis zur reinen Privatvorsorge. Das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 GG gebietet in jedem Fall, dass die Grundsicherungsleistungen als unterstes Sicherungselement im deutschen Sozialleistungssystem bei Ausschluss von Sozialhilfeleistungen jedenfalls auch bedarfsdeckend in Bezug auf das soziokulturelle Existenzminimum in jedem Einzelfall sind.
Obwohl der Bundeshaushalt vorübergehend ausgeglichen geplant wurde (Stichwort "Schwarze Null"), konnten die den Jobcentern zur Verfügung gestellten Bundesmittel aus Steuern nicht als auskömmlich bezeichnet werden. Das belegen auch die millionenschweren jährlichen Umbuchungen der Jobcenter aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungstitel. In der 20. Legislaturperiode wurden die Eingliederungs- und Verwaltungsmittel zunächst spürbar, aber nicht dauerhaft erhöht. Die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit stammen aus der Arbeitslosenversicherung und sind deshalb in diesem Zusammenhang nicht hilfreich, sie sind nach Abflauen der Kurzarbeit als Folge der Corona-Pandemie aufgebraucht. Es muss zunächst eine neue Rücklage aufgebaut werden.
Rz. 5
In der Bevölkerung hat die Zustimmung zu einem umfassenden Sozialstaat im Hinblick auf den dafür erforderlichen finanziellen Aufwand in den letzten Jahren etwas abgenommen. Andererseits wird der Sozialstaat dem Grunde nach nicht infrage gestellt, umstritten ist nur sein Umfang. Die Differenzen zwischen den Leistungsträgern des Staates und den Nutznießern des Sozialstaates sind größer geworden. Gegenstand der Diskussion ist soziale Gerechtigkeit. In der öffentlichen Diskussion zum Sozialgesetzbuch II ist nachhaltig angeprangert worden, dass mehrere Mio. Menschen mehr als zuvor auf Sozialhilfeniveau leben müssen, insgesamt je nach Arbeitsmarktlage und Jahreszeit zwischen 5 und rd. 7 Mio. Menschen mit den Leistungen für den Regelbedarf und wenigen besonderen Leistungen auskommen müssten. Über 10 % der Kinder leben danach in armen Familien. Als Folge seien mehr psychische Belastungen und soziale Konflikte festzustellen.
Rz. 6
Leider hat die öffentliche Diskussion das Vertuschen von Reichtum und das Verdrängen von Armut nicht beseitigt, sondern bestärkt. Menschen gelten als arm, wenn sie über so geringe Mittel verfügen, dass sie von der minimalen Lebensweise in ihrem Staat abgeschnitten sind. Offizielle regierungsamtliche Berichte über Armut und Reichtum vermitteln den Eindruck, dass politischer Handlungszwang dem Grunde nach nicht gegeben ist, weil in diesen Berichten staatliche Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen aus der Vergangenheit in Hülle und Fülle aufgelistet werden, seltener dagegen Zukunftsperspektiven aufgezeigt werden. Dennoch müssen Grundsicherungsleistungen letztlich armutsfest sein, d. h., keine existenziellen Bedarfe dürfen ganz oder teilweise ungedeckt bleiben. Rein statistisch wird Armut am Durchschnittseinkommen gemessen und damit ist die Validität der Aussage nicht mehr vorhanden.
Rz. 7
Unbestritten ist, dass es eine Konzentration von Reichtum in Deutschland gibt, ebenso wie ein hohes durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen. Problematisch hingegen ist die Einkommensverteilung, die aufgrund der aktuellen gesetzlichen Regelungen ungleicher wird, weil vorhandenes Vermögen rasch vermehrt wird. Erbschaften in Milliardenhöhe tun ein Übriges dazu. Wie viel mehr Armut damit verbunden ist, lässt sich schon deshalb schwer beantworten, weil dafür kein zuverlässiger, valider Maßstab vorgegeben werden kann. Deshalb gelingt es je nach In...