Rz. 174
Ziel der Angemessenheitsprüfung ist stets, dass der Leistungsberechtigte die Möglichkeit hat, eine bedarfsgerechte und angemessene Wohnung konkret anzumieten. Gegen die Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffes der Angemessenheit bestehen seitens des BSG keine durchgreifenden Bedenken (BSG, Urteil v. 12.12.2017, B 4 AS 33/16 R u. a.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 30.3.2023, L 32 AS 1888/17). Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit sind wegen dessen normativer Vorprägung die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Sicherung angemessenen Wohnraums für Hilfebedürftige zu beachten, um sicherzustellen, dass der Vergleich mit der Referenzgruppe gelingt. Dazu gehört in angespannten Wohnungsmärkten der Vergleich mit den Mieten im sozialen Wohnungsbau (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 30.3.2023, L 32 AS 1888/17). Wohnraum, der nach den Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus und des WoGG angemessen ist, kann danach jedenfalls in angespannten Wohnungsmärkten nicht grundsicherungsrechtlich unangemessen sein. Auch wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, eine Angemessenheitsgrenze zu bestimmen, ist bei einem Vergleich mit Sozialmieten die Feststellung zulässig, dass die konkrete Bruttokaltmiete im Einzelfall angemessen war. Das Sozialrechtsoptimierungsgebot des § 2 Abs. 2 SGB I schließt dem LSG zufolge in seiner verfahrensrechtlichen Wirkung bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit die Verortung der Darlegungs- und Beweislast aufseiten des Leistungsberechtigten aus. Ein Rückgriff auf die um den Faktor 1,1 erhöhten Werte der Wohngeldtabelle im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Realitätsgebot ist dem LSG für 2015/2016 im Land Berlin nicht sachgerecht erschienen.
Zur Bestimmung der angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft scheidet eine Berücksichtigung des Berliner Mietspiegels 2015 aus. Es sind hinreichende objektive Umstände erkennbar, die für Berlin auf eine Abkoppelung des Marktgeschehens vom Mietspiegel hindeuten (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 30.3.2023, L 32 AS 1888/17, unter Hinweis auf LSG Berlin, Urteil v. 2.12.2021, L 32 AS 579/16).
Fehlt es an einer konkreten Unterkunftsalternative, sind die Aufwendungen für die tatsächlich gemietete Unterkunft als konkret angemessen anzusehen und zu übernehmen (so schon BSG, Urteil v. 7.11.2016, B 7b AS 18/06 R). Umstände ohne Bezug zum Einzelfall, etwa sozialpolitisch erwünschte Strukturen in einzelnen Wohngebieten, dürfen auf die Entscheidung über die Angemessenheit keinen Einfluss haben. Der Gesetzgeber hat bundeseinheitliche Mindeststandards für die Angemessenheit von Wohnraum und Wohnkosten abgelehnt (vgl. BT-Drs. 16/3677). Damit wurde nicht ausgeschlossen, örtliche Satzungen zuzulassen und damit auch § 27 überflüssig zu machen, wie es nach §§ 22a ff. ab 2011 realisiert worden ist. Allerdings wird von der Möglichkeit, die Leistungen für Unterkunft und Heizung auf der Grundlage kommunaler Satzungen zu gewähren, in der Grundsicherungspraxis nur wenig Gebrauch gemacht. Schon die Bundesländer gehen sehr zögerlich vor (Berlin, Hessen, Sachsen, Schleswig-Holstein), die Berliner Rechtsverordnung ("WAV") ist wiederholt als rechtswidrig, auch in Bezug auf die Heizkosten, eingestuft worden (vgl. auch BSG, Urteil v. 3.9.2020, B 14 AS 40/19).
Rz. 174a
Unangemessene Mieten für eine Wohnung müssen nicht deshalb vom Jobcenter übernommen werden, weil eine streng religiöse Familie in Kenntnis der hohen Kosten eine solche Wohnung bezogen hat, um in der Nähe des von ihnen besuchten Gotteshauses wohnen zu können (SG Berlin, Beschluss v. 14.11.2017, S 162 AS 14273/17 ER).
Die nach öffentlichem Baurecht erforderliche Raumhöhe ist für die Beurteilung der Angemessenheit nicht relevant (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 17.11.2020, L 9 AS 495/17).
Rz. 175
Die Angemessenheit i. S. v. Abs. 1 unterliegt Veränderungen. Durch Rückgriff auf Vorschriften der Länder z. B. zur Angemessenheit von Wohnraumgrößen wird gerade auch, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt, an die Sozialhilfepraxis angeknüpft. Dadurch unterliegt die Angemessenheit aber auch Veränderungen, die vom Gesetzgeber nicht ausgeschlossen worden sind. Die Angemessenheit der Unterkunftskosten kann sich auch nicht auf einen starren Beurteilungspunkt beziehen, z. B. den Tag der Antragstellung auf Leistungen nach dem SGB II. Aspekte der Vergangenheit und der Zukunft können maßgebende Kriterien für eine andere als allein im gegenwärtigen Zeitpunkt abzugebende Beurteilung sein. So können etwa Schwierigkeiten am Wohnungsmarkt mit Umständen in der Vergangenheit einzelner Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft begründet sein (Drogenabhängigkeit, Freiheitsentzug, Obdachlosigkeit) oder absehbare Änderungen (Schwangerschaft, Ablauf eines Freiheitsentzugs, Vollendung des 25. Lebensjahres) in der Größe der Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen sein. Es ist stets eine Gesamtschau erforderlich, in dessen Mittelpunkt eine Prognose stehen muss, ob die Entscheidung über die Angemessenheit der...