Rz. 44

Das BVerfG hat mit Urteil v. 5.11.2019 (1 BvL 7/16) einstimmig entschieden, dass § 31a Abs. 1 Satz 1 bis 3 für Fälle des § 31 Abs. 1 mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V. mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG unvereinbar ist, soweit

  • bei erneuter Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 1 die Leistungsminderung 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt,
  • eine Leistungsminderung nach § 31a Abs. 1 Satz 1 bis 3 auch bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte zwingend festzustellen ist und
  • die Dauer der Leistungsminderung nach § 31b Abs. 1 Satz 3 für alle Leistungsminderungen ungeachtet der Erfüllung einer Mitwirkungspflicht oder der Bereitschaft dazu starr 3 Monate beträgt.

Das BVerfG hat dem Gesetzgeber damit eine Neuregelung ohne Frist aufgegeben und zugleich als ab dem 5.11.2019 geltendes Recht vorgegeben, nach welchen Maßgaben in Fällen des § 31 Abs. 1 bis zum Inkrafttreten der Neuregelung am 1.1.2023 die Minderungsvorschriften des § 31a Abs. 1 Satz 1 bis 3 a.f.und § 31b Abs. 1 Satz 3 a. F. weiterhin als Übergangsregelung anwendbar waren:

Eine Leistungsminderung nach § 31a Abs. 1 Satz 1 muss bei Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 1 nicht erfolgen, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände eine außergewöhnliche Härte für den Leistungsberechtigten bedeuten würde. Ausweislich Ziff. 2 Buchst. a des Tenors zum Urteil kann insbesondere von einer Minderung abgesehen werden, wenn nach Einschätzung der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem die Feststellung der Leistungsminderung unterbleibt.

 

Rz. 45

Eine Leistungsminderung nach § 31a Abs. 1 Satz 2 und 3 a. F. durfte bei wiederholter Pflichtverletzung nicht mit einer Minderung der Leistung für Regelbedarf von mehr als 30 % einhergehen. Auch in diesen Fällen konnte wegen des Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte von der Feststellung der Leistungsminderung abgesehen werden. Dies betraf unmittelbar nur Minderungsentscheidungen zu Sachverhalten nach § 31 Abs. 1.

 

Rz. 46

Eine Leistungsminderung nach § 31b Abs. 1 Satz 3 a. F. durfte ab dem Zeitpunkt nicht länger als einen Monat andauern, zu dem die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder sich der Leistungsberechtigte nachträglich ernsthaft und nachhaltig bereiterklärte, seinen Pflichten nachzukommen.

 

Rz. 47

Die Entscheidung des BVerfG hat Gesetzeskraft. Das Gericht selbst hatte die zulässige Normenkontrollvorlage zur Verfassungsmäßigkeit der §§ 31a Abs. 1 Satz 1, 2, 4 und 5 a. F., 31b Abs. 1 Satz 1, 3 und 5 a. F. in Fällen des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 (als zulässige Vorlagefragen) um § 31a Abs. 1 Satz 3 a. F. und um die Fälle des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 erweitert, weil es sich um eine gleichgelagerte Mitwirkungspflicht handelt und dann die Normen einheitlich beurteilt werden können.

 

Rz. 48

Dagegen betraf die Entscheidung des BVerfG nicht die Regelungen in § 31 Abs. 2 und § 32 a. F. Auch war eine höhere Belastung von Betroffenen bei Zusammentreffen mehrerer, auch anderen Leistungsminderungen nicht Gegenstand der Entscheidung.

 

Rz. 49

Das BVerfG hat zudem ausgeführt, dass die Frage nach der Vereinbarkeit der Minderungsbestimmungen gegenüber erwerbsfähigen Leistungsberechtigten unter 25 Jahren (§§ 31a Abs. 2 a. F., 31b Abs. 1 Satz 4 a. F.) eine eigenständige verfassungsrechtliche Prüfung erfordert, die durch das Ausgangsverfahren nicht veranlasst war. Zu diesen Bestimmungen habe das Verfahren auch keine Fragen aufgeworfen; es fehle die fachgerichtliche Aufarbeitung der Sach- und Rechtslage.

 

Rz. 50

Das BVerfG hat dem Urteil 3 Leitsätze vorangestellt. Darin stellt es heraus, dass der Anspruch auf staatliche Grundsicherungsleistungen allen zusteht und selbst durch vermeintlich unwürdiges Verhalten und auch beim Vorwurf schwerster Verfehlungen nicht verloren geht. Die zentralen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung dieser einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz sichernden Grundsicherungsleistung ergeben sich demnach aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Der Gesetzgeber darf aber die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden und damit nur zur Verfügung stellen, wenn wirkliche Bedürftigkeit vorliegt, Menschen ihre Existenz also nicht vorrangig selbst sichern können.

 

Rz. 51

Diesen zur Sicherung der eigenen Existenz nicht fähigen erwerbsfähigen Menschen darf der Gesetzgeber abverlangen, selbst zumutbar an der Vermeidung oder Überwindung der eigenen Bedürftigkeit aktiv mitzuwirken. Der Gesetzgeber darf sich auch dafür entscheiden, insoweit verhältnismäßige Pflichten mit ebenfalls verhältnismäßigen Leistungsminderung durchzusetzen.

 

Rz. 52

Der Gesetzgeber schafft mit dem vorübergehenden Entzug existenzsichernder Leistungen eine außerordentliche Belastung. Dafür gelten strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit, der ansonsten weite Einschätzungsspielraum in Bezug auf die Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit als Kriterien der Verhältnismäßigkeit von Regelungen des Gese...

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