Rz. 5
Die gesetzliche Vermutung einer Bevollmächtigung bezieht sich auf die Antragstellung und Entgegennahme von Leistungen nach dem SGB II; nur insoweit gilt die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person bzw. der tatsächliche Antragsteller als vertretungsbefugt. Das Gesetz differenziert nicht nach den unterschiedlichen Leistungsarten. Insofern unterfallen der Vorschrift alle Leistungen des SGB II, also auch Eingliederungsleistungen nach den §§ 16 ff. (Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 20). Adressat der Bewilligungsbescheide für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ist deshalb der vermutet Bevollmächtigte. Dagegen sind alle sonstigen Verwaltungsakte (insbesondere Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide, Sanktions- und Aufrechnungsbescheide) nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Adressierung ausschließlich an das jeweils betroffene Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu richten (BSG, Urteil v. 4.6.2014, B 14 AS 2/13 R; Kallert, a. a. O., Rz. 29), es sei denn, eine Vertretungsbefugnis ergibt sich aus anderen Gründen (z. B. aus der gesetzlichen Vertretungsmacht der Eltern für ihre minderjährigen Kinder). Die Vertretung der Bedarfsgemeinschaft ist umfassend. Es besteht also z. B. für den Vertreter die Möglichkeit, eine Untervollmacht zu erteilen (Kallert, a. a. O., Rz. 27). Im Falle einer sozialrechtlichen Bedarfsgemeinschaft ist insoweit entscheidend, ob der Rechtsanwalt inhaltlich Ansprüche mehrerer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft geltend macht oder nicht (vgl. BSG, Urteil v. 27.9.2011, B 4 AS 155/10 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 4.1.2010, L 19 B 316/09). Wenn das Vorbringen des Rechtsanwalts im Widerspruchsverfahren nicht nur den Individualanspruch des ihm gegenüber allein als Auftraggeber auftretenden Vertreters der Bedarfsgemeinschaft, sondern auch die Ansprüche der weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zum Gegenstand hat, ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte im Zweifel davon auszugehen, dass auch die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Auftraggeber des Rechtsanwalts sind (vgl. LG Wuppertal, Beschluss v. 21.8.2019, 16 T 75/18 m. w. N.).
Rz. 6
Die Vertretungsbefugnis betrifft nicht nur die Beantragung, sondern auch die Entgegennahme von Leistungen (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 27.2.2024, L 11 AS 330/22). Adressat der Bewilligungsbescheide für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ist deshalb der vermutet Bevollmächtigte. Durch eine an den Vertreter bewirkte Leistung tritt auch hinsichtlich der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Erfüllungswirkung ein (Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 22). Etwas anderes gilt für höchstpersönliche Leistungen (z. B. Dienstleistung für einzelne Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft). Diese können nur an das jeweilige Mitglied der Bedarfsgemeinschaft gewährt werden. Hinsichtlich von Sach- oder Dienstleistungen, die in Form von Gutscheinen vom Grundleistungsträger ausgegeben werden, wird die Auffassung vertreten, dass diese an den Vertreter der Bedarfsgemeinschaft mit befreiender Wirkung ausgegeben werden können (Kallert, a. a. O.). Leitet der Vertreter die Leistungen nicht an die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft weiter, sondern verbraucht sie selbst, können die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nur Leistungen nach § 7 Abs. 2 und § 23 Abs. 1 als Darlehen erhalten (Mrozynski, ZfSH/SGB 2004, 198; Schoch, ZfF 2004, 169).
Rz. 7
Allerdings ist die Rechtsfolge der Vertretungsvermutung des Satzes 1 auf die Vertretung im Verwaltungsverfahren beschränkt (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 21.4.2008, L 20 AS 112/06 m. w. N.; König, in: BeckOK, SGB II, § 38 Rz. 3). Der Widerspruch kann zwar grundsätzlich von jedem einzelnen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, soweit es von dem Bescheid betroffen ist, eingelegt werden. § 38 ist nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil v. 7.11.2006, B 7b AS 8/06 R) dahin auszulegen, dass die vermutete Bevollmächtigung alle Verfahrenshandlungen erfasst, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Anspruchs dienen, also auch die Einlegung des Widerspruchs (ebenso: König, a. a. O.; a. A. Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 24). Erforderlich ist jedoch nach Auffassung des BSG, dass in der Rechtsbehelfsbelehrung zum Ausdruck gebracht werden muss, dass der maßgebliche Rechtsbehelf für jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft eingelegt werden muss (BSG, Urteil v. 7.11.2006, B 7b AS 8/06 R). Erhebt der nach § 38 vermutet Bevollmächtigte Widerspruch gegen einen Bewilligungsbescheid und sind entgegenstehende Anhaltspunkte nicht ersichtlich, ist der Rechtsbehelf dahingehend auszulegen, dass Widerspruch auch im Namen des anderen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft eingelegt wird. Das Anhörungsverfahren unterliegt nicht der Vertretungsbefugnis, sondern ist von dem individuell Betroffenen durchzuführen (BSG, Urteil v. 4.6.2014, B 14 AS 2/13 R; BSG, Urteil v. 7.7.2011, B 14 AS 144/10 R; Kallert, a. a. O., Rz. 30). Eine Klageerhebung wird von Abs. 1 Satz 1 nicht erfasst (Köni...