0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift trat mit Art. 1 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 24.12.2003 (BGBl. I S. 2954) am 1.1.2005 (Art. 61 Abs. 1 des genannten Gesetzes) in Kraft. Zuletzt ist § 38 im Rahmen der Neufassung von Kapitel 4 Abschnitt 1 (§§ 36 bis 44 SGB II) mit Art 2 Nr. 32 des Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch v. 24.3.2011 (BGBl. I S. 453) zum 1.4.2011 geändert worden. Abs. 1 ist dabei nur redaktionell geändert worden. Abs. 2 ist der Vorschrift hinzugefügt worden und enthält eine Regelung, die das Antragsrecht der umgangsberechtigten Person für Leistungen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts betrifft.
1 Allgemeines
Rz. 2
Aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsökonomie enthält Abs. 1 Satz 1 die gesetzliche widerlegbare Vermutung der Bevollmächtigung des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten für die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Hiermit soll im Regelfall verhindert werden, dass der Agentur für Arbeit eine Vielzahl von Ansprechpartnern einer Bedarfsgemeinschaft gegenübersteht und überflüssiger Verwaltungsaufwand anfällt. Der Grund der Vorschrift liegt somit in besserer Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsökonomie (König, in: BeckOK, SGB II, § 38 Rz. 1). § 38 hat ausschließlich einen verfahrensrechtlichen Charakter (BGH, Beschluss v. 18.3.2020, XII ZB 213/19 m. w. N.). Abs. 1 Satz 2 regelt das Konkurrenzverhältnis mehrerer erwerbsfähiger Hilfebedürftiger in einer Bedarfsgemeinschaft und bestimmt den Erwerbsfähigen zum Vertreter der anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, der die Leistungen zuerst beantragt. Abs. 2 enthält für die sog. temporäre Bedarfsgemeinschaft eine Vertretungsregelung. Danach hat während der Zeit, in der sich ein Kind im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts im Haushalt des getrennt lebenden Elternteils oder einer anderen umgangsberechtigten Person aufhält, dieser die Befugnis, Leistungen für das Kind zu beantragen und entgegenzunehmen.
2 Rechtspraxis
2.1 Vertretung nach Abs. 1
2.1.1 Voraussetzung der Vermutungswirkung
Rz. 3
§ 38 stellt eine Konkretisierung des allgemeinen Grundsatzes dar, wonach es einem Beteiligten freisteht, sich im Verwaltungsverfahren vertreten zu lassen, obwohl eigentlich jedes einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Leistungen beantragen müsste, da es sich um Individualansprüche handelt (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 27.2.2020, L 7 AS 21212/19). Auch durch die Zugehörigkeit zur Bedarfsgemeinschaft verlieren die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nicht ihren Einzelanspruch (BGH, Beschluss v. 18.3.2020, XII ZB 213/19; Paulenz, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 38 Rz. 3). Abs. 1 Satz 1 enthält die Vermutung einer rechtsgeschäftlichen Vertretungsvollmacht für die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft (Paulenz, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 38 Rz. 6; Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 11; Silbermann, in: Luik/Harich, SGB II, § 38 Rz. 12). Die widerlegbare Vermutung gilt für den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in der Bedarfsgemeinschaft. Für die Vertretungsbefugnis des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist entscheidend, dass dieser Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ist. Dies gilt nach der Rechtsprechung unabhängig davon, ob er selbst Leistungen beanspruchen kann (BSG, Urteil v. 22.8.2013, B 14 AS 78/12 R; BSG, Urteil v. 15.4.2008, B 14/7b AS 58/06 R; Valgolio, in: Hauck/Noftz, SGB II, § 38 Rz. 6; krit. dazu Kallert, a. a. O., Rz. 13, der in Anbetracht der Eindeutigkeit des Wortlauts von Abs. 1 Satz 1 – "...erwerbsfähige Leistungsberechtigte..." berechtigte Zweifel anmeldet, ob eine solche Auslegung vertretbar ist). Endet die Mitgliedschaft zur Bedarfsgemeinschaft endet auch die Vertretungsbefugnis (Paulenz, a. a. O., Rz. 6).
Rz. 4
Der Bevollmächtigte muss verfahrensfähig sein (h. M. vgl. Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 14 m. w. N.; a. A. Silbermann, in: Luik/Harich, SGB II, § 38 Rz. 14, der eine beschränkte Handlungsfähigkeit nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 für ausreichend erachtet). Ist unklar, ob überhaupt eine Bedarfsgemeinschaft vorliegt bzw. ob einzelne Personen der Bedarfsgemeinschaft angehören, liegen die Voraussetzungen nach Abs. 1 Satz 1 nicht vor (Paulenz, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 38 Rz. 11 m. w. N.; Silbermann, a. a. O., Rz. 20; Kallert, a. a. O., Rz. 16).
2.1.2 Inhalt der Vermutungswirkung
Rz. 5
Die gesetzliche Vermutung einer Bevollmächtigung bezieht sich auf die Antragstellung und Entgegennahme von Leistungen nach dem SGB II; nur insoweit gilt die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person bzw. der tatsächliche Antragsteller als vertretungsbefugt. Das Gesetz differenziert nicht nach den unterschiedlichen Leistungsarten. Insofern unterfallen der Vorschrift alle Leistungen des SGB II, also auch Eingliederungsleistungen nach den §§ 16 ff. (Kallert, in: Gagel, SGB II, § 38 Rz. 20). Adressat der Bewilligungsbescheide für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ist deshalb der vermutet Bevollmächtigte. Dagegen sind alle sonstigen Verwaltungsakte (insbesondere Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide, Sanktions- und Aufrec...