0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift trat mit Art. 1 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 24.12.2003 (BGBl I S. 2954) am 1.1.2005 (Art. 61 Abs. 1 des genannten Gesetzes) in Kraft. Die Vorschrift ist durch Art. 2 des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21.12.2008 (BGBl. I S. 2917) zum 1.1.2009 neu gefasst worden. In seiner bis dahin geltenden Fassung sah die Vorschrift vor, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet oder den Übergang des Anspruchs bewirkt, keine aufschiebende Wirkung hat. Mit der Neufassung von § 39 wurden die Fallgestaltungen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, deutlicher herausgestellt. Die Vorschrift ist in der Folge im Rahmen der Neufassung von Kapitel 4 Abschnitt 1 (§§ 36 bis 44 SGB II) mit Art. 2 Nr. 32 des Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch v. 24.3.2011 (BGBl. I S. 453) zum 1.4.2011 geändert worden. Die Änderungen betreffen die Nr. 1 und die Nr. 3. Nr. 1 ist derart ergänzt worden, dass auch der Widerspruch und die Klage gegen einen die Pflichtverletzung und die Minderung des Anspruchs feststellenden Verwaltungsakt nach § 31b Abs. 1 keine aufschiebende Wirkung haben. Die Änderung in Nr. 3 ist rein redaktioneller Natur (Einfügung der Worte "aufgefordert wird"). Zuletzt ist die Vorschrift durch Art. 1 des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht v. 26.7.2016 (BGBl. I S. 1824) mit Wirkung zum 1.8.2016 geändert worden. Dabei wurde die bisherige Nr. 2 gestrichen und in Nr. 1 das Wort "entzieht" eingefügt.
1 Allgemeines
Rz. 2
Grundsätzlich führt der Widerspruch dazu, dass der betreffende Verwaltungsakt bis zu einer Entscheidung nicht "vollzogen" werden kann (sog. aufschiebende Wirkung oder Suspensiveffekt); der Verwaltungsakt muss nicht befolgt bzw. kann nicht genutzt werden (§ 86a Abs. 1 SGG). Hiervon macht § 39 SGB II i. V. m. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG 2 Ausnahmen. Widerspruch und Klage gegen eine Entscheidung der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Leistungen zur Eingliederung in Arbeit haben keine aufschiebende Wirkung. Das Gleiche gilt für einen Verwaltungsakt, der den Anspruchsübergang bewirkt (s. § 33). Mit der Vorschrift ist bezweckt, dass Entscheidungen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht durch Erhebung von Rechtsbehelfen und die Einlegung von Rechtsmitteln verzögert werden. Die Vorschrift ist sowohl für die Bundesagentur für Arbeit, die Arbeitsgemeinschaften als auch für die zugelassenen kommunalen Träger anwendbar.
Rz. 3
Rechtssystematisch handelt es sich bei § 39 um eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass mit der Einlegung von Widerspruch und Anfechtungsklage eine aufschiebende Wirkung eintritt, § 86a Abs. 1 SGG. Als Ausnahmevorschrift ist § 39 nach den allgemeinen Auslegungsregelungen eng auszulegen (so wohl auch Bay. LSG, Beschluss v. 12.4.2012, L 7 AS 222/12; Conradis, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 39 Rz. 5; ähnlich Herbe, in: Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, SGB II, § 39 Rz. 11, wonach die Vorschrift nicht erweiternd ausgelegt werden darf).
2 Rechtspraxis
2.1 Leistungen der Grundsicherung (Nr. 1)
Rz. 4
Die Aufzählung der Fälle, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, ist abschließend. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Nr. 1 sind das Arbeitslosengeld II, das Sozialgeld, Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit nach § 25, der Zuschuss nach § 26 und die Leistungen des Bildungspaketes nach § 28. Zu den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gehören auch die Eingliederungsleistungen nach § 16 (König, in: BeckOK, SGB II, § 39 Rz. 3; Löcken, in: Luik/Harich, SGB II, § 39 Rz. 17). Nicht erfasst sind Ersatzansprüche nach § 34 (vgl. Conradis, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 39 Rz. 11) und Ansprüche aus Erbenhaftung nach § 35 (König, in: BeckOK, SGB II, § 39 Rz. 3, Conradis, in: Münder/Geiger/lenze, SGB II, § 39 Rz. 11). Rückforderungsansprüche nach den §§ 45, 48 und 50 SGB X sind nach der zum 1.1.2009 erfolgten Rechtsänderung von Nr. 1 erfasst (Conradis, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 39 Rz. 6). Insofern haben Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung. Durch die Gesetzesänderung hat sich der Streit darüber erledigt, ob es sich bei Rückforderungsleistungen um "Leistungen" i. S. v. § 39 handelt (vgl. Conradis, in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, § 39 Rz. 7).
Rz. 5
Widerspruch und Anfechtungsklage haben keine aufschiebende Wirkung gegenüber einem Verwaltungsakt, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft oder entzieht. Hierunter fallen Entscheidungen nach den §§ 44 bis 49 SGB X. Nr. 1 unterscheidet nicht danach, ob die Leistungen der Grundsicherung ganz oder nur teilweise aufgehoben, zurückgenommen...