Rz. 27

Abs. 3 ist durch das Neunte Gesetz zur Änderung des SGB II – Rechtsvereinfachung – und zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht mit Wirkung zum 1.8.2016 in die Vorschrift eingefügt worden. Mit der Neuregelung in Abs. 3 wird die Rücknahme rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakte eingeschränkt, da ansonsten solche Verwaltungsakte nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X für die Vergangenheit zurückzunehmen sind. Liegen die in § 44 Abs. 1 Satz 1 genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, ist der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden unter den Voraussetzungen der Nr. 1 oder 2 zurückzunehmen. Die Rücknahme erfolgt nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung.

 

Rz. 28

Voraussetzung für die Rücknahme des Verwaltungsaktes ist, dass dieser auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes durch eine Entscheidung des BVerfG für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist (Satz 1 Nr. 1) oder in ständiger Rechtsprechung anders als durch die jeweiligen Grundleistungsträger ausgelegt worden ist (Nr. 2). Hintergrund der Neuregelung ist die Rechtsprechung des BSG. Dieses hat zu § 40 Abs. 2 Nr. 2 a. F. i. V. m. § 330 Abs. 1 SGB III festgestellt, dass die Normen nur dann zur Anwendung kommen, wenn die ständige Rechtsprechung von der Rechtsanwendung aller Jobcenter einschließlich aller kommunalen Träger abweicht (BSG, Urteil v. 15.12.2010, B 14 AS 61/09; BSG, Urteil v. 21.6.2011, B 4 AS 118/10 R).

 

Rz. 29

Satz 1 Nr. 1 greift unabhängig davon, ob es sich um eine Nichtigkeitserklärung oder eine Unvereinbarkeitserklärung des Bundesverfassungsgerichts handelt (Löcken, in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, § 40 Rz. 91). Eine "Entscheidung" im Sinne von Nr. 1 liegt mit der Verkündigung einer Entscheidung durch das BVerfG oder bei fehlender Verkündung durch die erste Zustellung an einen der Beteiligten vor.

 

Rz. 30

Durch den neuen Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 wird bei der Prüfung, ob die bisherige Auslegung einer Rechtsnorm von der ständigen Rechtsprechung abweicht, auf die Verwaltungspraxis der jeweiligen Leistungsträger (Bundesagentur für Arbeit, kommunaler Träger, zugelassener kommunaler Träger) in ihrem Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich abgestellt (BT-Drs. 17/3404 S. 189; krit. zur Neuregelung Staiger, info also 2016 S. 208, der davon spricht, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung die Rechtsprechung des BSG aushebelt; krit. auch Conradis, in: Münder/Geiger, SGB II, § 40 Rz. 17, der hinterfragt, welchen Schutzzweck die Norm erfüllen soll; a. A. Löcken, in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, § 40 Rz. 99, der die Vorschrift wegen der Anpassung an die rechtlichen Gegebenheiten, nämlich die Trägerstruktur im SGB II, für geboten erachtet). Unklar ist allerdings, ob es auf die Praxis des einzelnen Jobcenters ankommt oder aber auf die gemeinsame Praxis der Bundesagentur für Arbeit. Hintergrund dieser Streitfrage ist, dass in Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 "die ... zuständigen Träger der Grundsicherung" genannt werden. Diese Frage ist bislang noch nicht abschließend obergerichtlich geklärt. Nach der Gesetzesbegründung hat jedenfalls eine evtl. abweichende gängige Verwaltungspraxis anderer Leistungsträger in anderen Zuständigkeits- und Verantwortungsbereichen keinen Einfluss. Begründet wird dies damit, dass der Grundsicherungsträger nur in seinem jeweiligen Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich eine gleichmäßige Verwaltungspraxis feststellen und sicherstellen kann (BT-Drs. 18/8041 S. 48).

 

Rz. 31

Unklar ist, wann eine "ständige Rechtsprechung" vorliegt. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass nur Revisionsentscheidungen eine ständige Rechtsprechung begründen können (allg. Meinung vgl. Löcken, in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, § 40 Rz. 94). Darüber hinaus wird zum Teil die Auffassung vertreten, dass bereits das Vorliegen einer höchstrichterlichen Entscheidung eine "ständige Rechtsprechung" sein kann (BSG, Urteil v. 29.6.2000, B 11 AL 99/99 R, mit der Begründung, dass dann keine Klärungsbedürftigkeit mehr vorliege). Nach anderer Auffassung müssen wenigstens 2 übereinstimmende höchstrichterliche Entscheidung vorliegen, um von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung auszugehen (so Merten, in: BeckOK, SGB II, § 40 Rz. 14). Unter "ständiger Rechtsprechung" sind nicht zwingend nur die Entscheidungen des Bundessozialgerichts zu verstehen. Auch obergerichtliche Entscheidungen, z. B. des Bundesgerichtshofs, Bundesverwaltungsgerichts oder des Bundesarbeitsgerichts können eine "ständige Rechtsprechung" begründen (Merten, in: BeckOK, SGB II, § 40 Rz. 14). Bestehen Zweifel an dem Bestehen einer "ständigen Rechtsprechung" wirken diese Zweifel zugunsten des Leistungsempfängers (Löcken, in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, § 40 Rz. 95).

 

Rz. 32

Der nach bisheriger Rechtslage über den Verweis in § 40 Abs. 2 Nr. 2 anwendbare § 330 Abs. 1 SGB III dient dem Zweck zu verh...

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