Rz. 5
Ein Forderungserlass wegen persönlicher Unbilligkeit kommt in Betracht, wenn sich der Schuldner in einer Notlage befindet und zu besorgen ist, dass die Weiterverfolgung des Anspruchs zu einer Existenzgefährdung führt (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 16.2.2022, L 2 AS 1334/21 B; LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 29.10.2020, L 6 AS 99/18). Der Erlass der Forderung ist aus persönlichen oder sachlichen Gründen möglich (allg. Meinung vgl. Kemper, in: Luik/Harich, SGB II, § 44 Rz. 10). § 44 eröffnet zum einen die Möglichkeit, bei den Rücknahmefolgen den besonderen persönlichen Umständen Rechnung zu tragen (BSG, Urteil v. 25.4.2018, B 14 AS 15/17 R). Zum anderen kann eine Billigkeitsmaßnahme auch dann angezeigt sein, wenn die Anwendung einer in ihrer generalisierenden Wirkung verfassungsgemäßen Regelung im Einzelfall zu Grundrechtsverstößen führen würde und solange nicht die Geltung des Gesetzes unterlaufen wird (BSG, Urteil v. 25.4.2018, B 14 AS 15/17 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 29.6.2017, L 7 AS 395/16; Merten, in: BeckOK, SGB II, § 44 Rz. 7). Dies kann dann der Fall sein, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, sie aber nach dem Zweck des zugrunde liegende Gesetzes nicht zu rechtfertigen ist und dessen Wertung zuwider läuft (Kemper, in: Luik/Harich, SGB II, § 44 Rz. 12). Allerdings ist es nicht Sinn und Zweck der Erlassregelung des § 44, die Folgen eines nicht eingelegten oder erfolglosen Rechtsbehelfs auszugleichen (Kemper, in: Luik/Harich, SGB II, § 44 Rz. 14).
Rz. 6
Bei der Frage, ob die Einziehung aus persönlichen Gründen im Einzelfall "unbillig" wäre, handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Es ist dabei auf die besonderen Umstände des Einzelfalles abzustellen. Nach der Gesetzesbegründung soll mit § 44 ein Gleichklang zu den Versicherungsleistungen nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV hergestellt werden. Fraglich ist, ob dieser Gleichklang wie bei § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV zur Folge hat, dass allein die wirtschaftliche Notlage die Annahme einer "Unbilligkeit" rechtfertigt. Im Gegensatz zu den Versicherungsleistungen werden die Leistungen nach dem SGB II nur an Hilfebedürftige gewährt. Eine wirtschaftliche Notlage ist also der Leistungsgewährung immanent. Eine Unterdeckung unter die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts allein genügt hierfür allerdings für die Annahme einer Unbilligkeit nicht, weil die in § 42a Abs. 2 und 43 vorgesehene Aufrechnung eine solche Unterdeckung gerade vorsieht (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 16.2.2022, L 2 AS 1334/21 B). Insofern müssen noch andere, von Hilfebedürftigen nicht zu vertretende Umstände gegeben sein, um die Unbilligkeit zu bejahen. Dies können insbesondere Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder externe Gründe sein, wie z. B. ein Unfall.
Rz. 7
Unbilligkeit ist dann zu bejahen, wenn der Schuldner sich in einer Notlage befindet und zu besorgen ist, dass die Weiterverfolgung des Anspruchs zu einer Existenzgefährdung führt (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 29.6.2017, L 7 AS 395/16; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 24.10.2016, L 7 AS 882/16 B; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 21.5.2014, L 3 AS 2383/13; Wendtland, in: Gagel, SGB II, § 44 Rz. 8; Kemper, in: Luik/Harich, SGB II, § 44 Rz. 10). Unbilligkeit liegt vor, wenn etwa der Schuldner ohne den Erlass seinen notwendigen Lebensunterhalt (Ernährung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Behandlung, Ausbildung, sonstige erforderliche Gegenstände des täglichen Lebens) vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestreiten könnte. Persönliche Unbilligkeit setzt voraus, dass im Einzelfall Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit vorliegen (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 22.2.2023, L 3 AS 2551/22). Eine Unbilligkeit kann auch dann angenommen werden, wenn der Forderungseinzug eine erneute Hilfebedürftigkeit des Leistungsbeziehers zur Folge haben würde (Kemper, in: Luik/Harich, SGB II, § 44 Rz. 10 m. w. N.).
Rz. 8
Darüber hinaus kann eine Billigkeitsmaßnahme auch angezeigt sein, wenn der Sachverhalt zwar den Tatbestand der Anspruchsnorm erfüllt, die Forderungseinziehung gleichwohl den Wertungen des Gesetzes zuwiderliefe, solange nicht die Geltung des Gesetzes unterlaufen wird. Unbilligkeit liegt erst dann vor, wenn das Einziehen der Forderung dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widerspricht (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 21.5.2014, L 3 AS 2383/13). Unzulässig ist der Erlass daher, wenn der Hilfebedürftige den Anspruch selbst durch unrichtige Angaben bzw. vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten herbeigeführt hat. Unbilligkeit kann aber angenommen werden, wenn die Forderungseinziehung beim Schuldner erneute Bedürftigkeit hervorruft oder deren Überwindung gefährden würde (Eicher, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 44 Rz. 14).
Rz. 9
Das Vorliegen einer "Unbilligkeit" ist aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung festzustellen (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 21.5.2014, L 3 AS 2383/13; Wendtland, in: Gagel, SGB I...