Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Rechtsanwaltsvergütung. PKH-Verfahren. beigeordnete Rechtsanwältin. Erinnerung gegen Festsetzungsbeschluss. keine Verwirkung des Erinnerungsrechts. Verwirkungsverhalten. beachtlicher Zeit- und Umstandsmoment. Vertrauensgrundlage des Erinnerungsgegners
Leitsatz (amtlich)
Für die Verwirkung des Erinnerungsrechts des im Rahmen der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalts gegen den Vergütungsfestsetzungsbeschluss fehlt es regelmäßig an einem Umstandsmoment.
Orientierungssatz
1. Verwirkung verlangt immer sowohl nach einem Zeit - als auch nach einem Umstandsmoment. Der Ablauf eines langen Zeitraums allein genügt für die Verwirkung nie. Zur Nichtausübung eines Rechts über einen längeren Zeitraum müssen vielmehr stets weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebiets das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Voraussetzung dafür ist zunächst, dass der Verpflichtete aufgrund eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage).
2. Ein solches Verwirkungsverhalten kann regelmäßig in der vorbehaltlosen (aktiven) Zahlung der Vergütung durch die Landeskasse auf einen dem Festsetzungsantrag des beigeordneten Rechtsanwalts entsprechenden Festsetzungsbeschluss gesehen werden (vgl LSG München vom 4.10.2012 - L 15 SF 131/11 B E = AGS 2012, 584).
Normenkette
RVG § 33 Abs. 3, § 4 S. 3, § 56 Abs. 2 Sätze 1-3; SGG § 177
Tenor
Die Beschwerde des Erinnerungsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Schleswig vom 22. November 2019 wird zurückgewiesen.
Der Beschluss ergeht gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Erinnerungsrecht der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwältin verwirkt ist.
Die Vergütung der Erinnerungsführerin, die in einer grundsicherungsrechtlichen Streitigkeit dem Kläger als Prozessbevollmächtigte beigeordnet worden war, wurde mit Festsetzungsbeschluss vom 31. Januar 2018 auf 523,60 EUR festgesetzt.
Erst am 14. Juni 2019 hat die Erinnerungsführerin dagegen Erinnerung erhoben und die Festsetzung der Vergütung in beantragter Höhe (1.261,40 EUR), zumindest aber in Höhe von 815,00 EUR zzgl. Umsatzsteuer verlangt.
Mit Beschluss vom 22. November 2019 hat das Sozialgericht auf die Erinnerung den angegriffenen Festsetzungsbeschluss geändert und die aus der Landeskasse zu zahlende Vergütung auf 880,60 EUR festgesetzt.
Gegen den ihm am 27. November 2019 zugestellten Beschluss hat der Erinnerungsgegner am 4. Dezember 2019 Beschwerde eingelegt.
Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die Erinnerung knapp eineinhalb Jahre nach Erlass des Festsetzungsbeschlusses zu spät erhoben worden sei. Die Erinnerung sei zwar an keine Frist gebunden. Eine Verwirkung sei dagegen für beide Seiten dann anzunehmen, wenn die Kostenberechnung längst abgewickelt sei und sich alle Beteiligten darauf eingestellt hätten, dass sich die Kostenfrage erledigt habe. So habe das Bayerische LSG mit Beschluss vom 4. Oktober 2012 - L 15 SF 131/11 B E - festgestellt, dass das Erinnerungsrecht der Staatskasse trotz Fehlens einer ausdrücklichen Befristung nicht bis in alle Ewigkeit bestehe und eine Verwirkung spätestens nach Ablauf eines Jahres nach Wirksamwerden des Festsetzungsbeschlusses angenommen. Die Frage der Verwirkung des Erinnerungsrechts des Rechtsanwalts habe zwar in jener Entscheidung offengelassen werden können. In der Literatur werde aber eine Verwirkung bereits nach Ablauf von drei Monaten nach Zustellung des Festsetzungsbeschlusses erwogen. Beide Fristen seien hier längst verstrichen gewesen.
Er beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Schleswig vom 22. November 2019 aufzuheben und die Erinnerung als unzulässig zu verwerfen.
Die Erinnerungsführerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Beschluss. Die Erinnerung sei an keine Frist gebunden und tatsächlich auch nicht verwirkt. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem seitens des Erinnerungsgegners beigebrachten Beschluss des Bayerischen LSG. Dieses differenziere hinsichtlich der Verwirkung vielmehr vor dem Hintergrund grundrechtlicher Erwägungen bewusst zwischen dem Erinnerungsrecht der Landeskasse und dem des Rechtsanwalts.
II.
Der Senat entscheidet durch den Einzelrichter (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 Satz 1 Halbsatz 2 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG).
Die zulässige Beschwerde (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 RVG) ist unbegründet. Der angegriffene Beschluss vom 22. November 2019 bedarf keiner Korrektur.
Über die Höhe der Vergütung der Erinnerungsführerin, die das Sozialgericht mit dem angegriffenen Beschluss auf 880,60 EUR festgesetzt hat, besteht zwischen den Beteiligten kein Streit mehr. Der Erinnerungsgegner hat die Angemessenheit der vom Sozialgericht fes...