Entscheidungsstichwort (Thema)
Versagung einer Rente wegen fehlender Mitwirkung. Ermessensentscheidung. ärztliche Begutachtung. Ermessensreduzierung auf Null
Leitsatz (amtlich)
1. Die Versagung einer Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund fehlender Mitwirkung setzt grundsätzlich die Ausübung von Ermessen voraus.
2. Zu den Anforderung des Ausnahmefalles einer Ermessensreduzierung auf null.
Orientierungssatz
1. Dem Leistungsträger wird durch § 66 Abs 1 S 1 SGB 1 grundsätzlich ein Ermessensspielraum eingeräumt, ob und gegebenenfalls - sofern die Leistung teilbar ist - in welchem Umfang er die Leistung versagen will (vgl BSG vom 17.2.2004 - B 1 KR 4/02 R = SozR 4-1200 § 66 Nr 1, BSG vom 26.5.1983 - 10 RKg 13/82 = SozR 1200 § 66 Nr 10, BSG vom 22.2.1995 - 4 RA 44/94 = BSGE 76, 16 = SozR 3-1200 § 66 Nr 3). Der teilweise in der Literatur vertretenen Auffassung, dem Sozialleistungsträger stünde bei der Versagung nach § 66 SGB 1 kein Ermessen zu, soweit die Anspruchsvoraussetzungen nicht bewiesen seien, folgt der erkennende Senat nicht.
2. Im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 66 Abs 1 S 1 SGB 1 ist - sofern die Aufklärung nicht unmöglich ist - darüber zu befinden, in welchem Umfang weitere Ermittlungen angestellt werden können und sollen bzw eine Nachfrist für die Mitwirkung eingeräumt wird, sofern die Leistungsvoraussetzungen noch nicht nachgewiesen sind. Hier können auch individuelle Gesichtspunkte Bedeutung erlangen, die tatbestandlich mangels Erforderlichkeit eines Verschuldens des Pflichtverstoßes außer Betracht bleiben. Insoweit sind die Gründe zu beachten, derentwegen der zur Mitwirkung grundsätzlich Verpflichtete seine Mitwirkung verweigert.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kiel vom 31. Mai 2011 und der Bescheid der Beklagten vom 20. September 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2008 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Feststellungsklage wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechtszüge zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich im Berufungsverfahren nur noch gegen die Versagung der von ihm beantragten Rente wegen Erwerbsminderung bis zur Nachholung seiner Mitwirkung im Verwaltungsverfahren und begehrt die Feststellung der Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 ff. Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I).
Der am 16. Mai 1960 geborene Kläger informierte die Beklagte mit Schreiben vom 24. Juni 2006 darüber, dass das Dienstleistungszentrum Neumünster seinem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch vom 1. Juni 2006 wegen der Annahme von Erwerbsunfähigkeit nicht entsprochen habe. Es werde davon ausgegangen, dass er schon seit 1994 berufsunfähig sei. Der Kläger bat um Prüfung des Rentenanspruchs ab diesem Zeitpunkt. Auf sein Erinnerungsschreiben vom 14. Oktober 2006 bat die Beklagte vergeblich um erneute Übersendung des Schreibens vom 24. Juni 2006, da dieses bei ihr nicht eingegangen sei.
Der Kläger stellte am 17. September 2006 einen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) bei der Stadt Neumünster als zuständigem Sozialhilfeträger. Dieser leitete zur Feststellung, ob dauerhaft volle Erwerbsminderung vorliegt, mit Ersuchen vom 30. Oktober 2006, das bei der Beklagten am 8. November 2006 einging, eine Überprüfung nach § 45 SGB XII ein. Mit Schreiben vom 8. Januar 2007 forderte die Beklagte den Kläger daraufhin vergeblich auf, die ihn behandelnden Ärzte zu benennen und von der Schweigepflicht zu entbinden. Nachdem die Beklagte den Sozialhilfeträger hiervon in Kenntnis gesetzt hatte, zog dieser seinen Antrag auf Feststellung der Leistungsfähigkeit des Klägers zurück.
Die Beklagte wertete das Ersuchen des Sozialhilfeträgers als Antrag des Klägers auf eine entsprechende Rentenleistung und forderte ihn mit Schreiben vom 11. April 2007 unter Hinweis auf seine Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 ff. SGB I auf, den Rentenformantrag auszufüllen und einen Befundbericht des behandelnden Arztes einzureichen. Der auf den 18. April 2007 datierte Antrag ging am 23. April 2007 mit dem Schreiben des Klägers vom 19. April 2007 bei der Beklagten ein, mit dem er nochmals das Schreiben vom 24. Juni 2006 übersandte und unter Hinweis auf die Beratungs- und Auskunftspflicht der Beklagten erneut um Beantwortung bat. Zugleich wandte er ein, sein behandelnder Arzt müsse keinen Befundbericht über sämtliche Erkrankungen seit seiner Arbeitsaufgabe vor 13 Jahren erstatten, wenn die Beklagte sich durch einen geringeren Aufwand selbst die erforderlichen Kenntnisse verschaffen könne. In diesem Zusammenhang bat der Kläger um Mitteilung, welche Unterlagen der Beklagten vorlägen, damit diese gegebenenfalls durch ihn ergänzt werden könnten. Danach könne sein behandelnder Arzt abschließende konkrete Informationen an die ...