Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewertung in Polen zurückgelegter Beschäftigungszeiten. Diskriminierungsverbot

 

Orientierungssatz

1. Nach Art. 27 Abs. 2 S. 1 des Gesetzes zum deutsch-polnischen Abkommen vom 8. 12. 1990 werden die vor dem 1. 1. 1991 aufgrund des Abkommens vom 9. 10. 1975 zwischen der BRD und der Volksrepublik Polen von Personen in einem Vertragsstaat erworbenen Ansprüche und Anwartschaften durch das Abkommen von 1990 nicht berührt, solange diese Personen auch nach dem 31. 12. 1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten.

2. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird für Unionsbürger, die in den Anwendungsbereich von 1975 fallen, nicht eingeschränkt. Art. 45 Abs. 2 AEUV verbietet ebenso wie zuvor Art. 39 EGV jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmern in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Damit sind die von diesen Personen in Polen zurückgelegten Beschäftigungszeiten ungekürzt zu berücksichtigen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 16.06.2015; Aktenzeichen B 13 R 27/13 R)

 

Tenor

Der Bescheid vom 06.03.2009 und der Bescheid vom 16.06.2009, jeweils in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.10.2010, werden abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, die für die Zeit vom 21.12.1966 bis 07.06.1989 ermittelten Entgeltpunkte nicht mit dem Faktor 0,6 zu multiplizieren und die Altersrente für Frauen der Klägerin neu zu berechnen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt ¾ der außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Kürzung von Entgeltpunkten für in Polen zurückgelegte Beitragszeiten und begehrt zudem die günstigere Einstufung in Polen zurückgelegter Beschäftigungszeiten.

Die Klägerin wurde am 00.00.0000 in Polen geboren und ist dort aufgewachsen. Vom 10.09.1968 bis 29.10.1968 hat sie eine Berufsvorbereitung aus dem Bereich Telefonistin in der Telefonzentrale II. Grades erfolgreich abgeschlossen. Vom 24.02.1968 bis 15.12.1981 war sie als Telefonistin der Grube "N." über Tage in C. beschäftigt. Vom 16.12.1981 bis 07.06.1989 war sie dort als Arbeiterin in der Markenstube über Tage beschäftigt. Am 10.06.1989 übersiedelte die Klägerin in das Bundesgebiet. Sie ist als Vertriebene anerkannt. Am 24.09.1994 verlegte sie ihren Wohnsitz in die Niederlande, wo sie mit ihrer Familie wohnte, jedoch keiner Beschäftigung nachging. Am 10.11.1999 erfolgte der erneute Zuzug in die Bundesrepublik Deutschland, wo sie seitdem wohnt. Mit Vormerkungsbescheid vom 28.04.2000 stellte die Beklagte die Zeiten bis 31.12.1993 verbindlich fest und übersandte der Klägerin eine entsprechende Rentenauskunft. Mit weiterem Vormerkungsbescheid vom 06.03.2009 stellte die Beklagte die Zeiten bis 31.12.2002 verbindlich fest. Die Klägerin legte am 19.03.2009 Widerspruch ein und wandte sich gegen die Multiplikation der Entgeltpunkte für in Polen vom 06.03.1966 bis 09.06.1989 zurückgelegte Beitragszeiten. Überdies begehrte sie die Zuordnung der vom 01.06.1975 bis 09.06.1989 zurückgelegten Zeiten zur Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum Sechsten Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI). Zur Begründung verwies sie auf den Vormerkungsbescheid vom 28.04.2000 und die erteilte Rentenauskunft, welche die Zeiten vom 06.03.1966 bis 09.06.1989 entsprechend dem seinerzeitigen materiellen Recht in vollem Umfang (d.h. ohne Kürzung) berücksichtigten. Mit Bescheid vom 16.06.2009 gewährte die Beklagte der Klägerin ab 01.07.2009 Altersrente für Frauen. Die Klägerin legte am 30.06.2009 Widerspruch ein und verwies zur Begründung auf die in ihrem Widerspruch vom 19.03.2009 geltend gemachten Gesichtspunkte. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.10.2010 (abgesandt am 25.10.2010) wies die Beklagte die beiden Widersprüche zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Kürzung der Entgeltpunkte auf 60% sei mit dem Grundgesetz vereinbar und die Klägerin erfülle die Voraussetzungen nicht, unter welchen das Gesetz mittlerweile einen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten vorsehe. Die mit dem Vormerkungsbescheid vom 28.04.2000 übersandte Rentenauskunft sei nicht rechtsverbindlich und stehe unter dem Vorbehalt künftiger Rechtsänderungen, weshalb sie keine Bindungswirkung zugunsten der Klägerin entfalte.

Hiergegen richtet sich die am 26.11.2010 erhobene Klage.

Die Klägerin beantragt zuletzt noch,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 06.03.2009 sowie des Bescheids vom 16.06.2009, jeweils in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.10.2010, zu verurteilen, die für die Zeit vom 21.12.1966 bis 07.06.1989 ermittelten Entgeltpunkte nicht mit dem Faktor 0,6 zu multiplizieren sowie die in der Zeit vom 01.06.1975 bis 07.06.1989 der Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI zuzuordnen sowie ihre Altersrente für Frauen neu zu berechnen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Klägerin zu ihrer Tätigkeit als Telefonistin im Rahmen des durchgeführten Verhandlungstermin...

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