Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Nichtanwendung auf Unionsbürger. Gleichbehandlungsgebot. europarechtskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 bleibt für arbeitsuchende Unionsbürger wegen des - Anwendungsvorrang genießenden - Gleichbehandlungsgebots aus Art 4 EGV 883/2004 unberücksichtigt.
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum ab dem 8. Mai 2012 bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31. Juli 2012, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 559,00 € monatlich zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Der Antragsgegner hat die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu erstatten.
Der Antragstellerin wird mit Wirkung ab dem 4. April 2012 für das Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt I… S…, S…, … B…, bewilligt. ..
Gründe
Der zulässige Antrag der 1975 geborenen Antragstellerin, einer italienischen Staatsangehörigen, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 559,00 € monatlich ab Rechtshängigkeit, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, zu bewilligen und zu zahlen, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, voraus. Der geltend gemachte (Leistungs-)Anspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit [i.V.m.] § 920 Abs. 2 ZPO).
Der Anordnungsgrund ergibt sich vorliegend bereits aus der existenzsichernden Natur der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Antragstellerin hat ferner mittels ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 3. April 2012 glaubhaft gemacht, dass sie weder über Vermögen noch Einkommen verfügt, aus dem sie ihren Lebensunterhalt auch nur übergangsweise bestreiten könnte.
Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Die Voraussetzungen des als Anspruchsgrundlage allein in Betracht kommenden § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind nach Aktenlage erfüllt. Durchgreifende Bedenken hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit oder der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach den Feststellungen des Antragsgegners zumindest seit 1. Dezember 2011 in Deutschland hat, bestehen mangels entgegenstehender Anhaltspunkte nicht.
Die Antragstellerin ist nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen, weil ihr Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland - zumindest in dem Zeitpunkt, ab dem ihr Leistungen mit diesem Beschluss zugesprochen werden - länger als drei Monate währt.
Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II besteht ebenfalls nicht (so auch: SG Berlin, Urteil v. 27. März 2012 - S 110 AS 28262/11 -; Beschl. v. 30. April 2012 - S 189 AS 7170/12 ER -; Beschl. v. 26. März 2012 - S 96 AS 6145/12 ER -; Beschl. v. 29. März 2012 - S 43 AS 6270/12 ER -; SG Dresden, Beschl. v. 05. August 2011 - S 36 AS 3461/11 ER -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 30. November 2010 - L 34 AS 1501/10 B ER -; SG Berlin, Urteil v. 24. Mai 2011 - S 149 AS 17644/09 -; Schreiber in: info also 2008, 3 [9]; Geiger in: info also 2010, 147 [150]; a.A. u.a. LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29. Februar 2012 - L 20 AS 2347/11 B ER -; Beschl. v. 3. April 2012 - L 5 AS 2157/11 B ER -). Nach dieser Vorschrift sind zwar Ausländer von Arbeitslosengeld II (Alg II)-Leistungen ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Ein Aufenthaltsrecht ließe sich für die Antragstellerin auch nur aus diesem Zweck gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Variante 2 FreizügG/EU herleiten. Sie ist hierzulande bislang nicht als angestellte Arbeitnehmerin oder selbständig beschäftigt gewesen und kann sich daher nicht auf eine Fortwirkung gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 oder Satz 2 FreizügG/EU berufen. Da die Antragstellerin und ihr Leben...