Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. keine Anwendbarkeit auf Unionsbürger. europarechtskonforme Auslegung. Gleichbehandlungsgebot. Fortgeltung des Freizügigkeitsrechts als selbstständiger Erwerbstätiger bei Schwangerschaft bzw Arbeitsunfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist auf Unionsbürger wegen eines Verstoßes gegen Art 4 iVm Art 3 Abs 3 iVm Art 70 iVm Anh 10 der EGV 883/2004 nicht anwendbar.
Orientierungssatz
Eine bulgarische Staatsangehörige ist nicht nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 von Leistungen ausgeschlossen, wenn ihr Aufenthaltsrecht gem § 2 Abs 3 S 1 Nr 1 oder Nr 2 FreizügG/EU 2004 wegen einer Schwangerschaft fortgilt.
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum 12. Juni 2012 bis 11. Dezember 2012 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 437,58 EUR zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin drei Viertel ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Der Antragstellerin wird mit Wirkung ab dem 12. Juni 2012 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt M… A…, K… Str. …, … B… bewilligt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum 12. Juni 2012 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache.
Die 22-jährige Antragstellerin, die die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, hält sich seit November 2009 durchgängig in Deutschland auf. Sie wohnt nach ihren Angaben gegenüber dem Antragsgegner mietfrei bei einem Bekannten in der P…str. …, … B….
Die Antragstellerin gibt an, seit November 2009 eine Tätigkeit als selbstständige Reinigungskraft auszuüben, mit der sie bisher ihren Lebensunterhalt bestritten hat. Es liegt eine entsprechende Gewerbeanmeldung vom 2. November 2009 vor. Rechnungen zu dieser Tätigkeit liegen erst ab August 2011 vor. Die Antragstellerin gibt an, zuvor lediglich für Auftraggeber gearbeitet zu haben, die keine Rechnungen benötigt hätten und das Geld bar vereinnahmt zu haben.
Aus den Monaten August, September und Oktober 2011 liegen Rechnungen gegenüber der Firma “…… . Hotelreinigungsservice„ über 1987,38 EUR, 1081,35 EUR und 640,80 EUR vor.
Aus den Monaten Januar 2012 bis Juni 2012 liegenden Rechnungen gegenüber der Firma “… … Hotelreinigungsservice„ (Januar) bzw. Herrn E.. H… (ab Februar) über 372,46 EUR, 499,24 EUR, 542,35 EUR, 1006,93 EUR, 785,32 EUR und 145,51 EUR vor. Bezüglich der Rechnungen von Januar 2012 bis Mai 2012 finden sich in den eingereichten Kontoauszügen entsprechende Zahlungseingänge.
Nach dem vorgelegten Auszug aus dem Mutterpass ist die Antragstellerin schwanger. Die Schwangerschaft ist am 7. Mai 2012 in der 12. Schwangerschaftswoche festgestellt worden, voraussichtlicher Entbindungstermin ist der 22. November 2012. Es liegt zudem eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Frauenarztes B… W… vom 19. Juni 2012 für den Zeitraum 19. Juni 2012 bis 17. Juli 2012 vor.
Am 22. Mai stellte die Antragstellerin einen Leistungsantrag beim Antragsgegner. Dieser lehnte die Bewilligung von Leistungen mit Bescheid vom 29. Mai 2012 ab und führte zur Begründung aus, die Antragstellerin habe ihre Freizügigkeitsbescheinigung auf Grundlage des § 5 FreizügigG/EU nur erhalten, weil sie gegenüber der Ausländerbehörde angegeben habe, über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichendes Einkommen zu verfügen.
Die Antragstellerin erhob am 12. Juni 2012 Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid und stellte zugleich den vorliegenden Eilantrag beim Sozialgericht.
Sie macht geltend, sie könne ihre bisherige Tätigkeit aufgrund der Schwangerschaft nicht mehr ausüben. Ein Leistungsanspruch bestehe aber selbst dann, wenn man sie als nur arbeitssuchend betrachte, da § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen höherrangiges Europarecht verstoße.
Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für den Zeitraum ab 12. Juni 2012 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er ist der Auffassung, ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestehe nicht, da eine selbstständige Tätigkeit der Antragstellerin nicht ausreichend nachgewiesen sei und sie damit dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unterfalle.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwehr wesentlich...