Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegfall des Arbeitslosengeldes II. zeitgleiche Entscheidung über Sachleistungen bzw geldwerte Leistungen. Ermessensreduzierung bei Gefährdung des physischen Existenzminimums. verfassungskonforme Auslegung

 

Orientierungssatz

1. Das Vorhandensein von geringfügigem Einkommen kann den Leistungsträger nicht davon entbinden, mit der Sanktionsentscheidung nach Maßgabe von § 31 Abs 3 S 6 SGB 2 zugleich auch über die Erbringung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen für den Sanktionszeitraum zu entscheiden.

2. Zwar wird dem Leistungsträger mit § 31 Abs 3 S 6 SGB 2 hierfür ein Ermessensspielraum eingeräumt; dieser verdichtet sich jedoch im Lichte der Grundrechte des Hilfebedürftigen aus Art 1 Abs 1 und Art 2 Abs 2 S 1 GG in den Fällen, in denen durch die Absenkung der Leistungen das physische Existenzminimum nicht mehr gesichert ist.

3. Der Grundrechtschutz wird auch nicht dadurch gewahrt, wenn der Leistungsträger einen Hilfebedürftigen im Absenkungsbescheid darauf hinweist, selbst einen Antrag auf Gewährung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen zu stellen.

 

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 16. Juni 2010 gegen den Absenkungsbescheid des Antragsgegners vom 8. Juni 2010 und den Änderungsbescheid des Antragsgegners vom 8. Juni 2010 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Dem Antragsteller wird für das Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten bewilligt.Urteil:

 

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die vollständige Absenkung seiner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Der Antragsteller bezieht von dem Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).

Mit Bescheid vom 8. Juni 2010 wurden die Leistungen des Antragstellers in Höhe von 414,19 Euro, davon 119,00 Euro Regelleistung sowie 295,19 Euro Kosten für Unterkunft und Heizung, für die Zeit vom 1. Juli 2010 bis 30. September 2010 um 100 % gemindert. Als Grund wurde genannt, dass der Antragsteller seinen Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung vom 28. Januar 2010 nicht nachgekommen sei. Es handele sich um eine wiederholte Pflichtverletzung (vorangegangene Pflichtverletzung am 8. November 2009). Mit Bescheid vom gleichen Tag wurde der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 15. März 2010 entsprechend geändert; dem Antragsteller wurden für die Zeit vom 1. Juli 2010 bis 30. September 2010 nunmehr Leistungen in Höhe von 0,00 Euro bewilligt.

Gegen die Bescheide vom 8. Juni 2010 legte der Antragsteller am 16. Juni 2010 Widerspruch ein. Zur Begründung trug der Antragsteller im Wesentlichen vor, es fehle schon an einem Verstoß gegen in der Eingliederungsvereinbarung vom 28. Januar 2010 festgelegte Pflichten. Außerdem sei er nicht ordnungsgemäß über die Rechtsfolgen eines Verstoßes belehrt worden. Des Weiteren liege auch keine weitere wiederholte Pflichtverletzung vor, wie sie § 31 Abs. 3 Satz 2 SGB II für eine vollständige Absenkung der Leistungen verlange. Schließlich habe der Antragsgegner mit der Absenkung nicht zugleich über die Gewährung von ergänzenden Sachleistungen oder geldwerten Leistungen gemäß § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II entschieden.

Am 23. Juni 2010 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Berlin um einstweiligen Rechtsschutz ersucht. Zur Begründung wiederholt und vertieft der Antragsteller seinen Vortrag aus dem Widerspruch vom 16. Juni 2010.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 16. Juni 2010 gegen den Absenkungsbescheid vom 8. Juni 2010 sowie den vollziehenden Änderungsbescheid vom 8. Juni 2010 mit der BG-Nummer: … anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Der Antragsgegner trägt im Wesentlichen vor, dass sich bei summarischer Prüfung keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide ergäben. Insbesondere sei ein Nachweis über die in der Eingliederungsvereinbarung vom 28. Januar 2010 geforderten Eigenbemühungen nicht erfolgt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners, die der Kammer zum Zeitpunkt der Entscheidung vorlagen.

II.

1. Der Antrag ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

a. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Bescheide vom 8. Juni 2010 ist nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen der Widerspruch und die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Zwar haben Widersprüche grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 Satz 1 ...

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