Entscheidungsstichwort (Thema)
Aberkennung einer Entschädigungsrente. Mitglied des Kollegiums des Ministeriums für Staatssicherheit. Beitrittsgebiet. Anhörung durch das Bundesversicherungsamt. Verfassungsmäßigkeit
Orientierungssatz
1. Wenn das Bundesversicherungsamt (BVA) bei einer Anhörung nach dem EntschRG auf derselben Tatsachengrundlage entscheiden will, welche die Kommission der Bundesrepublik Deutschland zum Versorgungsruhens- und Entschädigungsrentengesetz ihrem Beschluss zu Grunde gelegt hat, und wenn feststeht, dass diese demalle aus der Sicht des BVA entscheidungserheblichen Haupttatsachen bereits bekannt gemacht hat, genügt zurder dem BVA selbst durch § 24 Abs 1 SGB 10 gebotenen Handlung Folgendes:
Es muss den Betroffenen darauf hinweisen, dass es die Tatsachen, die ihm bereits die Kommission bekannt gemacht hatte, zur Grundlage einer Entziehungs- oder Minderungsentscheidung über das Recht auf Entschädigungsrente machen will. Ferner muss das BVA dem Betroffenen eine angemessene Frist von regelmäßig 14 Tagen zur Äußerung setzen, wenn dieser nicht mit einer kürzeren Frist einverstanden ist oder mitteilt, er wolle sich nicht mehr äußern. Nimmt der Betroffene Gelegenheit zur Stellungnahme, so muss das BVA sein Vorbringen zur Kenntnis nehmen und die beabsichtigte Entscheidung daraufhin überprüfen, ob weitere Ermittlungen erforderlich sind oder ob der Entscheidungsinhalt zu verändern ist. Dieser gesamte Vorgang kann zügig und formfrei durchgeführt werden, muss aber für das BVA, das insoweit im späteren Gerichtsverfahren die Darlegungs- und objektive Beweislast trägt, belegbar sein (Anschluss an BSG vom 31.10.2002 - B 4 RA 15/01 R = SozR 3-1300 § 24 Nr 22).
2. Zur vollständigen Aberkennung einer Entschädigungsrente eines Mitglieds des Kollegiums des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der ehemaligen DDR aufgrund festgestellter Verstöße gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit und Erfüllung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen des § 5 EntschRG.
3. § 5 EntschRG verstößt nicht gegen das GG oder den EinigVtr.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte berechtigt war, die Entschädigungsrente des Klägers wegen Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit abzuerkennen. Der Kläger hat eine Nachzahlung der Entschädigungsrente bis Januar 2003 erhalten. Gegenstand des Verfahrens ist nunmehr eine Entscheidung der Beklagten vom 7. Januar 2003, mit dem die Entschädigungsrente für die Zeit ab 1. Februar 2003 aberkannt worden ist.
Der Kläger wurde am 19. Januar 1923 in H geboren. Um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, verließen seine Eltern mit ihm im Jahr 1933 Deutschland und emigrierten über die Schweiz und Frankreich in die UdSSR. Ab 1951 war der Kläger als hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR tätig. Von 1953 bis 1986 leitete er die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA). 1953 wurde der Kläger stellvertretender Staatssekretär (im damaligen Staatssekretariat für Staatssicherheit), ab 1955 stellvertretender Minister für Staatssicherheit. Der Kläger wurde 1955 zum Generalmajor, 1965 zum Generalleutnant und 1980 zum Generaloberst ernannt. In seiner Funktion als Stellvertreter des Ministers und als Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung gehörte der Kläger dem Kollegium des MfS an. 1986 schied der Kläger aus dem aktiven Dienst des MfS aus.
In der DDR bezog der Kläger eine Ehrenpension nach Maßgabe der "Anordnung über Ehrenpensionen für Kämpfer gegen den Faschismus und für Verfolgte des Faschismus sowie für deren Hinterbliebene" vom 20. September 1976.
Auf der Grundlage des Entschädigungsrentengesetzes vom 22. April 1992 (ERG) wurden Ehrenpensionen, wie sie der Kläger erhielt, als Entschädigungsrenten weiter gezahlt. § 5 ERG enthält eine Regelung über die Kürzung oder Aberkennung einer solchen Entschädigungsrente. Absatz 1 lautet:
Entschädigungsrenten sind ... zu kürzen oder abzuerkennen, wenn der Berechtigte ... gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in schwerwiegendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht hat.
Über die Kürzung oder Aberkennung einer Entschädigungsrente entscheidet die Bundesrepublik Deutschland durch das Bundesversicherungsamt (hier: die Beklagte) auf Vorschlag der Kommission der Bundesrepublik Deutschland zum Versorgungsruhens- und Entschädigungsgesetz (Beigeladene zu 1). Gemäß § 6 Absatz 1 ERG ist die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (Beigeladene zu 2) für die Auszahlung der Entschädigungsrenten zuständig.
Mit Datum vom 8. Oktober 1992 erließ die Beklagte einen Bescheid, mit dem die Entschädigungsrente des Klägers "mit sofortiger Wirkung vorläufig aberkannt" wurde. Zur Begründung führte die Beklagte unter anderem aus, dass der Kläger als stellvertretender Minister für Staatssicherheit gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe.
Gegen diesen Be...