Entscheidungsstichwort (Thema)
Aberkennung der Entschädigungsrente. Beitrittsgebiet. Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit. stellvertretender Minister und Leiter der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit
Orientierungssatz
1. Der Ermächtigungstatbestand des Verstoßes gegen die Menschlichkeit oder gegen die Rechtsstaatlichkeit ist erfüllt, wenn der Inhaber eines Rechts auf Entschädigungsrente nach dem EntschRG durch sein Verhalten in Ausübung ihm übertragener oder eingeräumter Gewalt den Unrechtserfolg des Verstoßes gegen einen der genannten Grundsätze herbeigeführt oder einen nicht unerheblichen Beitrag dazu geleistet hat, dass andere diesen Erfolg herbeiführen; ferner muss er zurechnungsfähig gewesen sein und die Tatsachen gekannt haben, aus denen sich die Unvereinbarkeit seines Verhaltens mit den Grundsätzen der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit ergab (vgl BSG vom 30.1.1997 - 4 RA 99/95 = BSGE 80, 72 = SozR 3-8850 § 5 Nr 2).
2. Ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder/und Rechtsstaatlichkeit ist nur anhand der im angefochtenen Bescheid geltend gemachten Gründe zu prüfen. Umstände, die bei natürlicher Betrachtung in keinem Zusammenhang mit den angeführten Eingriffstatbeständen stehen, sind im Gerichtsverfahren weder von Amts wegen noch aufgrund eines Nachschiebens von Gründen beachtlich (vgl BSG vom 23.10.2003 - B 4 RA 52/02 R = BSGE 91, 231 = SozR 4-8850 § 5 Nr 1 und vom 30.1.1997 - 4 RA 23/96 = SozR 3-8850 § 5 Nr 1).
3. Es ist ausreichend, wenn der Betreffende durch Rat oder Tat oder durch Organisations- oder Schulungsmaßnahmen oder in anderer Weise im Rahmen der ihm eingeräumten Gewalt den Verstoß gefördert hat. Dieser ist ihm insbesondere dann zuzurechnen, wenn er den Befehl hierzu gegeben oder einen ihm erteilten Befehl näher ausgeformt oder wenn er Anordnungen zu Verstößen gegen diese Grundsätze mitbeschlossen oder öffentlich unterstützt hat (vgl BSG vom 30.1.1997 - 4 RA 23/96 aaO).
4. Erforderlich aber auch ausreichend für den Vorwurf persönlich schuldhaften Verhaltens ist, dass der Betreffende Kenntnis der Tatsachen hat, aus denen sich das unmenschliche und rechtsstaatswidrige Verhalten ergibt und ihm die Unmenschlichkeit oder Rechtsstaatswidrigkeit bewusst war oder bei zumutbarer Gewissensanspannung hätte bewusst sein müssen (vgl BSG vom 24.3.1998 - B 4 RA 78/96 R = SozR 3-8850 § 5 Nr 3 und vom 24.11.2005 - B 9a/9 V 8/03 R = BSGE 95, 244 = SozR 4-3100 § 1a Nr 1).
5. Die Ermächtigungsgrundlage des § 5 Abs 1 EntschRG ist mit dem GG und dem Völkerrecht vereinbar (vgl BSG vom 23.10.2003 - B 4 RA 52/02 R aaO, vom 30.1.1997 - 4 RA 99/95 aaO, vom 24.3.1998 - B 4 RA 78/96 R aaO und vom 24.11.2005 - B 9a/9 V 8/03 R aaO).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Berufungsklägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. März 2005 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit ist die Aberkennung einer Entschädigungsrente.
Die Berufungsklägerin ist die Witwe und Sonderrechtsnachfolgerin des am 9. November 2006 verstorbenen M W (im Folgenden Kläger); die Eheschließung erfolgte im August 1987.
Der Kläger war 1923 in H geboren worden. Um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, verließen seine Eltern mit ihm im Jahre 1933 Deutschland und emigrierten über die Schweiz und Frankreich in die UdSSR. Nach Kriegsende kehrte er nach Deutschland zurück und war zunächst beim (Ost-)Berliner Rundfunk und seit 16. Oktober 1949 beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten im Diplomatischen Dienst beschäftigt. Im September 1951 wurde er Mitarbeiter des Instituts für wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF), wie der Auslandsnachrichtendienst der DDR zunächst genannt wurde, der anfangs eine Abteilung des Außenministeriums der DDR war. 1953 wurde er stellvertretender Staatssekretär im damaligen Staatssekretariat für Staatssicherheit (SfS), ab November 1955 einer der Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit. Von 1953 bis 1986 leitete er im SfS bzw. später dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA). Er wurde 1955 zum Generalmajor, 1965 zum Generalleutnant und 1980 zum Generaloberst ernannt. In seiner Funktion als Stellvertreter des Ministers und als Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung gehörte er dem Kollegium des MfS an. 1986 schied er aus dem aktiven Dienst des MfS aus.
Ab 1. Januar 1983 bezog der Kläger eine Altersrente aus der Versorgungsordnung des Ministeriums für Staatssicherheit (Sonderversorgungssystem Nr. 4 der Anlage 2 zum Anwartschafts- und Überführungsgesetz [AAÜG]) von zunächst 4.313,- Mark monatlich und außerdem eine Ehrenpension aufgrund der Anordnung über Ehrenpensionen für Kämpfer gegen den Faschismus und für Verfolgte des Faschismus sowie für deren Hinterbliebene vom 20. Septembe...