Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. Glaubhaftmachung. wissenschaftliche Grundsätze der Aussagepsychologie. Erweckung vermeintlicher Erinnerungen mit therapeutischer Hilfe. Entbehrlichkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten
Leitsatz (amtlich)
1. Die Glaubhaftmachung des Klagevorbringens ist in Verfahren nach dem OEG anhand der auch für die Beurteilung von Zeugenaussagen maßgeblichen wissenschaftlichen Kriterien der Aussagepsychologie zu prüfen (vgl zu den Maßstäben der Aussagenpsychologie: BGH vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 = BGHST 45, 164).
2. Bei der "Erweckung vermeintlicher Erinnerungen mit therapeutischer Hilfe ist besonders sorgfältig zu prüfen, ob es sich um suggestiv produzierte Vorstellungen ohne Bezug zur Wirklichkeit handelt. Hierbei sind die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse Herbeiführen von Scheinerinnerungen (Pseudoerinnerungen) zu berücksichtigen (hierzu: Renate Volbert, Beurteilungen von Aussagen über Traumata, Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern, 1. Auflage 2004, insbesondere S. 105 bis 132 und 133 bis 141).
3. Glaubhaftigkeitsgutachten sind entbehrlich, wenn sich bereits aus dem Inhalt der Akten im Hinblick auf die Konstanz und die Genese der Aussage erhebliche Zweifel hinsichtlich der Richtigkeit der Angaben der Antragsteller zum Sachverhalt ergeben.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1963 geborene Klägerin hat eigenen Angaben zufolge nach dem Realschulabschluss von1983 bis 1989 verschiedene ungelernte Beschäftigungen ausgeübt und ist seitdem arbeitslos. Eine Umschulung zur Bürokauffrau von 1992 bis 1994 hat nicht zur Arbeitsaufnahme geführt. Seit Juni 2001 erhält sie wegen ihrer psychischen Störungen Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Am 05. April 1983 schloss die Klägerin die Ehe mit G.. 1988 lernte die Klägerin den Zeugen H. kennen und lebte ab Frühjahr 1989 zunehmend bei ihm (Darstellung der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung am 10. Dezember 2008). Im Scheidungsantrag vom 18. Januar 1989 gab die Klägerin an, ihr Ehemann sei am 06. November 1988 plötzlich und ohne Angabe von Gründen unter Zurücklassung aller persönlichen Sachen aus der ehemals ehelichen Wohnung ausgezogen und mit einer neuer Lebenspartnerin zusammengezogen. Auf Nachfrage der Klägerin habe er mitgeteilt, er wolle auf keinen Fall in die eheliche Gemeinschaft zurückgehen und sehe die Ehe mit seinem Auszug als beendet an (Schriftsatz der Rechtsanwältin I. vom 18. Januar 1989). Der Ehemann der Klägerin trug hierzu im Scheidungsverfahren vor, die Ehe sei aus Gründen zerrüttet, die in der Person der Klägerin lägen. Sie habe sich einem anderen Mann namens H. zugewandt und halte die Beziehung zu ihm nach wie vor aufrecht (Schriftsatz der Rechtsanwältin K. vom 31. Januar 1989). Die Ehe wurde durch Urteil des Amtsgerichts (AG) Braunschweig vom 29. November 1989 geschieden (Az.: 246 F 78/89). Mit Urteil vom 19. Dezember 1990 untersagte das AG Braunschweig dem Ehemann der Klägerin, die eheliche Wohnung ohne ihre ausdrückliche Zustimmung zu betreten (Az.: 246 F 1491/90). Die Klägerin hatte in diesem Verfahren erneut dargelegt, der Ehemann sei plötzlich und ohne Ankündigung am 06. November 1988 aus der ehelichen Wohnung ausgezogen. Sie habe seitdem die Kosten der Wohnung allein getragen und ihn mehrfach aufgefordert, hierzu beizutragen. Er habe dies zugesagt, seine Zusage jedoch nicht eingehalten. Gewalttätiges Verhalten des Ehemannes erwähnte die Klägerin weder in diesem Rechtsstreit noch im Scheidungsverfahren. Im Jahre 2001 verstarb der Ehemann der Klägerin nach deren eigenen Angaben.
Von 1993 bis 2000 befand sich die Klägerin mit Unterbrechungen in Behandlung der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. und erwähnte zwar eine Vergewaltigung in ihrem 14. Lebensjahr. Von Gewalttaten durch den eigenen Ehemann berichtete sie jedoch nicht (Bericht der Ärztin vom 12. November 2002). Vom 30. September bis zum 05. Oktober 1994 wurde die Klägerin in der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik des Städtischen Klinikums M. wegen einer reaktiven Depression mit Selbstmordgefahr bei Partnerschaftskonflikt und einer Angsterkrankung behandelt und gab an, sie leide seit etwa eineinhalb Jahren an Angstzuständen, die bisher nicht psychotherapeutisch behandelt wurden. Vor einer Woche habe sie ihr sieben Jahre jüngerer Freund nach einer Beziehung von eineinhalb Jahren verlassen und eine neue Beziehung aufgenommen. Hierdurch sei sie depressiv und antriebslos geworden (Arztbrief des Leitenden Abteilungsarztes Dr. N. vom 19. Oktober 1994). Von 1998 bis 1999 war die Klägerin in ambulanter Therapie bei der Psychologischen Psychotherapeutin O. und gab in einem “Fragebogen zur Lebensgeschichte„ hinsichtlich der Ursachen für ihre psychischen Probleme an: "Mein traumatisches Erlebnis, meine Ehe, finanzielle Schwierigkeiten, schwierige Kindheit" (...