Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Kostenübernahme für den Besuch einer Tagesförderstätte

 

Orientierungssatz

Ist ein Empfänger von Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem SGB 12 in sozialer und kultureller Hinsicht und auch zur Vermeidung von massiven Verschlechterungen seines gesundheitlichen Zustandes darauf angewiesen, wie bislang eine bestimmte Tagesförderstätte besuchen zu können, kommt trotz seines fortgeschrittenen Alters (hier: fast 80 Jahre) die Übernahme in ein sog Seniorenmodul nicht in Betracht.

 

Tenor

Der Bescheid des Beklagten vom 05.12.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.03.2012 wird aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin ab 01.07.2013 bis zunächst 30.06.2014 die Kosten für den Besuch der Tagesförderstätte des Vereins für Innere Mission im B. in der P. weiter zu gewähren.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin besucht eine Tagesförderstätte und begehrt von dem Beklagten die Weiterbewilligung der Kostenübernahme.

Sie ist 1933 geborenen und gehört zum Personenkreis der geistig wesentlich behinderten Menschen. Bis zur Auflösung des Landeskrankenhauses Kloster Blankenburg war sie dort untergebracht, seit langem wohnt sie im Wohnheim P. Über ihr 65. Lebensjahr hinaus wurde sie weiter in der Tagesstätte P. betreut, die Kosten wurden gemäß § 54 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX im Rahmen der Eingliederungshilfe übernommen.

Nach dem fachärztlichen Attest des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Schlemminger vom 5.3.2012, der sie seit Dezember 1996 regelmäßig psychiatrisch betreut, wurde die Klägerin zuerst 1963 und 1964 stationär psychiatrisch behandelt, daran schloss sich eine Langzeithospitalisierung in der Klinik Kloster Blankenburg von 1964-1988 an. Seitdem werde sie in einem Wohnheim betreut, ein wichtiger Bestandteil dieser Betreuung bestehe in dem Besuch der nebenan liegenden Tagesstätte. Neben einer bekannten geistigen Behinderung bestünden auch Traumatisierungen durch eine Vergewaltigung 1968 sowie durch den drei Jahre später eintretenden Tod des daraus resultierenden Kindes. Sie sei geistig behindert, gleichzeitig bestehe eine schizophrene Erkrankung und ein Residualsyndrom. Er halte die weitere Kostenübernahme für die Tagesstättenbetreuung für medizinisch-psychiatrisch notwendig, weil hierdurch eine bessere Stabilität des psychischen Zustandes aufrechterhalten werden könne. Aus früheren Krisen sei bekannt, dass es zu schweren Verhaltensstörungen kommen könne, mit hochgradiger Aggressivität, so dass in kritischen Phasen die Grundpflege kaum habe gewährleistet werden können. Die Kombination von Heimbetreuung und Tagesstättebetreuung habe deutlich mildernd und bessernd gewirkt.

Ihren Antrag vom 18.11.2011 auf Verlängerung der Kostenübernahme der tagesstrukturierenden Maßnahme in der Tagesstätte lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 5.12.2011 ab. Gemäß der Rahmenrichtlinie vom 2.12.2010 ende die Betreuung in der Tagesförderstätte unter Bezug auf die Rechtsgrundlage § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX spätestens mit dem Erreichen der rentenversicherungsrechtlichen Regelaltersgrenze. Aus Altersgründen aus der Tagesstätte ausscheidende geistig und geistig/mehrfach behinderte Menschen könnten Leistungen des Seniorenmoduls nach der Rahmenrichtlinie vom 2.12.2010 erhalten.

Ihren Widerspruch dagegen vom 19.12.2011 begründete die Klägerin damit, der Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft/Eingliederungshilfe sei nicht durch das Erreichen der Altersgrenze beschränkt. Durch die Richtlinie vom 2.12.2010 für das Modul “Tagesbetreuung für alt gewordene geistig und geistig/mehrfach behinderte Menschen„ könne eine Altersbegrenzung rechtswirksam nicht herbeigeführt werden. Nicht werkstattfähige Menschen hätten Anspruch darauf, in einer Tagesförderstelle betreut und gefördert zu werden. Dieser Anspruch ende nicht automatisch mit dem 65. Lebensjahr, da der Wechsel vom Wohnbereich in den betreuten Tagesbereich (Zwei-Milieu-Prinzip) ein wesentliches Element der Eingliederung in das Gemeinschaftsleben bleibe. Dazu berief sie sich auf Rechtsprechung der Verwaltungs- und Sozialgerichte. Eingliederungshilfe sei lebenslang zu gewähren.

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. März 2012 als unbegründet zurück. Die Klägerin habe das 65. Lebensjahr schon lange vollendet. Ein Anspruch auf Hilfe zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 41 SGB IX sei mithin nicht mehr gegeben, die Kosten für die weitere Betreuung in der Tagesstätte hätten ab 1.12.2011 nicht mehr übernommen werden können. Auch der Beklagte verweist auf verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, wonach mit Erreichen des Ruhestandes zwar grundsätzlich nicht der Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe entfalle, deren Zweck aber nicht mehr darin bestehen könne...

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