Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. anderes Aufenthaltsrecht. Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus
Leitsatz (amtlich)
Der Unionsbürger, der innerhalb von 15 Monaten im Rahmen von zwei oder mehreren Beschäftigungsverhältnissen eine Beschäftigungsdauer von insgesamt über einem Jahr erreicht, kommt in den Genuss eines fortwirkenden - grundsätzlich unbefristeten - Aufenthaltsrechtsrechts nach § 2 Abs 2 Nr 2 iVm Abs 3 S 1 Nr 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (juris: FreizügG/EU 2004). Er ist damit nicht nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende ausgeschlossen, da er über ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer verfügt und nicht nur über ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchender.
Tenor
1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab dem 7.2.2017 Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende nach näherer Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften des Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches - SGB II - zu gewähren.
2. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe
Der am 7.2.2017 beim Sozialgericht Chemnitz eingegangene Antrag der Antragstellerin, die Staatsangehörige der tschechischen Republik ist, auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt,
den Antragsgegner zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II ab Antragseingang in gesetzlicher Höhe vorläufig zu gewähren,
hat Erfolg, weil die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung vorliegen.
Nach § 86 b Abs. 2 Sätze 2 und 4 Sozialgerichtsgesetz - SGG - i.V. mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO - ergeht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis, wenn der Antragsteller den geltend gemachten Anspruch, den Anordnungsanspruch, und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung, den Anordnungsgrund, glaubhaft macht. Wann ein Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch im Einzelfall glaubhaft gemacht ist, richtet sich nach dem Maß, in dem grundrechtlich geschützte Belange betroffen sind. Beim Grundrechtsträger dürfen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes keine schweren und unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen eintreten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927 ff.). Zum Schutz elementarer Grundrechtsgüter kann es daher ausreichen, wenn die Prüfung der Sach- und Rechtslage ergibt, dass das Bestehen des geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruchs überwiegend wahrscheinlich ist. Der Schutz elementarer Rechtsgüter erfordert zumeist auch im Eilverfahren eine über eine lediglich summarische Prüfung hinausgehende Bewertung der Sach- und Rechtslage.
Daran gemessen ist hier sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner kann dem Leistungsanspruch der Antragstellerin nicht den Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegenhalten, wonach ausgenommen von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende diejenigen Ausländerinnen und Ausländer sind, die sich allein auf der Grundlage eines Aufenthaltsrechts zur Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhalten. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bezieht sich dabei insbesondere auf die Angehörigen der Staaten der Europäischen Union, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a Freizügigkeitsgesetz/EU grundsätzlich ein weitreichendes Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche haben.
Vorliegend spricht jedoch viel dafür, dass die Antragstellerin sich auf ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU berufen kann. Nach dieser Vorschrift bleibt das Recht eines Unionsbürgers, sich als Arbeitnehmer im Bundesgebiet aufzuhalten unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Vorliegend war die Antragstellerin in der Zeit vom 8.7.2013 bis 30.06.2014 und nochmals vom 22.09.2014 bis 25.11.2014 als Arbeitnehmerin im Bundesgebiet erwerbstätig. Nach Eintritt der Arbeitslosigkeit am 26.11.2014 gewährte die Bundesagentur für Arbeit der Antragstellerin Arbeitslosengeld I mit einer Anspruchsdauer von 180 Tagen. Mit dieser Gewährung ohne Feststellung einer Sperrzeit steht zum einen fest, dass die Arbeitslosengeld der Antragstellerin unfreiwillig im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU war. Des Weiteren hält es die Kammer für gerechtfertigt, auch die weitere Voraussetzung einer Beschäftigung von mehr als einem Jahr als erfüllt anzusehen.
Aus dem Wortlaut der Vorschrift alleine lässt sich nicht erkennen, ob die Beschäftigungsdauer ununterbrochen bestanden haben muss oder ob und ggf. in welchem Umfang Unterbrechungen unschädlich sind; bzw. anders herum ausgedrückt, inwiefern es zulässig ist, mehrere Be...