Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Anspruch auf Zweitversorgung mit einem Hilfsmittel (hier: Therapiestuhl) für den Besuch einer vorschulischen Kindereinrichtung erst ab Vollendung des dritten Lebensjahres
Leitsatz (amtlich)
Ein Anspruch auf Zweitversorgung mit einem Hilfsmittel nach § 33 Abs 1 SGB V für den Besuch einer vorschulischen Kindereinrichtung besteht im Hinblick auf die Förderung der Schulfähigkeit erst ab Vollendung des dritten Lebensjahres.
Orientierungssatz
Zu Leitsatz: Anschluss an BSG vom 3.11.2011 - B 3 KR 8/11 R = BSGE 109, 199 = SozR 4-2500 § 33 Nr 37 RdNr 22 und LSG Chemnitz vom 18.6.2020 - L 9 KR 761/17).
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 3.425,45 EUR festgesetzt.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer Zweitversorgung eines Kindes vor Vollendung des dritten Lebensjahres mit einem Therapiestuhl für den Besuch einer Kindertageseinrichtung.
Das bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Kind B S (Versicherter), geboren am XX.XX.XXXX, leidet an einer spinalen Muskelatrophie mit proximal- und beinbetonter Muskelschwäche und einer Entwicklungsverzögerung der Grobmotorik. Die Beklagte versorgte ihn daher für die Einhaltung einer sitzenden Körperhaltung mit einem Therapiestuhl im häuslichen Bereich.
Unter Vorlage einer Verordnung der Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendmedizin Dr. M/C beantragte der Versicherte am 04.04.2018 bei der Beklagten die Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl mit High-Low Untergestell, Therapietisch, anatomische Sitzeinheit und Zubehör für den Besuch des Kindergartens. Dem Antrag fügte er einen Kostenvorschlag der Sanitätshaus I GmbH in Höhe von 3.425,45 EUR bei. Am 09.04.2018 leitete die Beklagte den Antrag an die Klägerin weiter. Zur Begründung führte sie aus, dass die Weiterleitung nach § 14 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) angezeigt sei, da eine Zuständigkeit der Klägerin für eine Versorgung des unter drei Jahre alten Versicherten mit einem Therapiestuhl für den Besuch eines Kindergartens als Zweitversorgung nicht bestehe. Mit Bescheid vom 05.07.2018 bewilligte die Klägerin die vorläufige Kostenübernahme für die beantragte Zweitversorgung gemäß § 54 Sozialgesetzbuch - Zwölftes Buch - (SGB XII) in Verbindung mit § 26 SGB IX.
Am 19.12.2018 meldete die Klägerin bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch gemäß § 16 SGB IX an. In einem weiteren Schreiben vom 15.03.2019 bezifferte sie den Erstattungsanspruch auf 3.425,45 EUR. Im Übrigen führte sie aus, dass die Beklagte zuständig sei, da durch den Besuch einer Kinderkrippe die Erschließung eines körperlichen und geistigen Freiraums sowie die Integration unter Gleichaltrigen gewährleistet werde. Ferner sei die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung. Mit Schreiben vom 01.04.2019 lehnte die Beklagte eine Erstattung unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 03.11.2011 mit den Aktenzeichen B 3 KR 13/10 R, B 3 KR 8/11 R und B 3 KR 7/11 R ab.
Mit ihrer am 02.12.2019 bei Gericht eingegangen Klage verfolgt die Klägerin ihr Erstattungsbegehren in Höhe von 3.425,45 EUR nebst fünf Prozent Verwaltungskostenpauschale sowie Zinsen weiter. Der tägliche Transport des von der Beklagten bewilligten Therapiestuhls von Zuhause in den Kindergarten und wieder zurück sei wegen Sperrigkeit und Gewicht des Stuhls weder geeignet noch zumutbar. Die Beklagte sei für die Hilfsmittelversorgung nach § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch - (SGB V) originär zuständig, weil sie dem mittelbaren Behinderungsausgleich zur Erfüllung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens diene. Schließlich stelle unter Verweis auf § 24 Sozialgesetzbuch - Achtes Buch - (SGB VIII) sowie auf ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Nürnberg vom 19.09.2018 (Az.: S 11 KR 328/17) der Besuch einer Kindertagesstätte auch für Kinder unter drei Jahren ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens dar.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.425,45 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 01.02.2019 nach den gesetzlichen Bestimmungen des § 16 Abs. 6 SGB IX in Verbindung mit § 108 Abs. 2 SGB X sowie eine Verwaltungskostenpauschale in Höhe von 5 Prozent der erstattungsfähigen Leistungsaufwendungen zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf ihr Ablehnungsschreiben vom 01.04.2019.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von den Beteiligten vorgelegten Verwaltungsakten. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Klage ist als echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Klägerin hat jedoch keinen Anspruch auf Erstatt...