Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. cannabishaltiges Fertigarzneimittel. Off-Label-Use
Leitsatz (amtlich)
1. § 31 Abs 6 SGB V ermöglicht eine indikationsübergreifende Verwendung von Arzneimitteln auf Cannabisbasis.
2. Die Voraussetzungen des Off-Label-Use müssen bei der Versorgung mit einem cannabishaltigen Fertigarzneimittel (hier Sativex®) nicht kumulativ vorliegen.
Orientierungssatz
Az beim LSG Darmstadt: L 8 KR 396/17 B ER.
Tenor
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig die Genehmigung zur Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Sativex® zu erteilen und die Antragstellerin längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahren mit diesem Fertigarzneimittel in maximaler Tagesdosis von 0,5g bei einem 4-Wochen-Bedarf von 15g zu versorgen, soweit und solange es vertragsärztlich verordnet wird.
2. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzverfahrens die Versorgung mit dem Arzneimittel Sativex®, hilfsweise die Genehmigung von Verordnungen über Cannabisblüten. Die 1966 geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Sie war zuletzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule C-Stadt beschäftigt; die Tätigkeit vor Ort wurde aufgrund bestehender Arbeitsunfähigkeit aufgegeben. Die Antragstellerin leidet seit 2003 an erheblichen orthopädischen Erkrankungen: Im Jahr 2003 wurde sie zweimal im Lendenwirbelsäulenbereich operiert, eine weiterer Eingriff schloss sich 2005 an. In der Folgezeit entwickelten sich aufgrund einer instabilen Wirbelsäule Durchbrechschmerzen - es folgte eine erste Versteifungsoperation. In den Folgejahren unterzog sich die Antragstellerin weiteren chirurgischen Eingriffen, zuletzt im Januar 2016. Die Antragstellerin entwickelte ein chronisches Schmerzsyndrom mit neuropathischen Beschwerden sowie Bewegungs- und Belastungsschmerzen.
Unter dem 10.08.2016 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin die Versorgung mit Dronabinol beziehungsweise Sativex®. Zur Begründung bezog sie sich auf eine ärztliche Bescheinigung des Dr. Y vom 07.08.2016. Danach leidet die Klägerin an einem chronischen Schmerzsyndrom, das durch die bisherige medikamentöse und operative Behandlung, die zum Teil mit ausgeprägten Nebenwirkungen einhergegangen sind, nicht relevant gelindert werden konnte. Ein Behandlungsversuch mit dem Cannabiswirkstoff Dronabinol beziehungsweise dem Cannabisextrakt Sativex® sei aufgrund der wissenschaftlichen Datenlage angezeigt.
Zur Beurteilung erbat die Antragsgegnerin eine medizinische Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Hessen. In der Stellungnahme des MDK vom 10.08.2016 war aufgeführt, dass die Lebensqualität sicherlich erheblich auf Dauer beeinträchtigt sei, der Therapieerfolg im Einzelfall aber kein Kriterium beim Off-Label-Use darstelle. Ein akut notstandsähnlicher Befund sei nicht übermittelt worden; die Erkrankung sei nicht singulär. Dronabinol sei als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode grundsätzlich nicht verordnungsfähig, bei Sativex® könne man bei gut dokumentierter Alternativlosigkeit die Kostenübernahme zunächst für drei Monate erwägen. Das vorgelegte Kurzattest reiche hierzu nicht aus. Zudem sei das Arzneimittel durch einen Vertragsarzt zu verordnen (Bl. 11 ff. der Verwaltungsakte).
Am 23.08.2016 erfolgte eine weitere sozialmedizinische Begutachtung durch den MDK nach Aktenlage. Die Beurteilung erfolgte erneut anhand der Kriterien für den genannten Off-Label-Use. Der MDK empfahl eine multimodale Schmerztherapie (Bl. 22 der Verwaltungsakte). Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag daraufhin mit Bescheid vom 30.08.2016 ab.
Die Klägerin widersprach am 13.09.2016: Die MDK-Stellungnahme würde nicht auf dem aktuellen Erkenntnisstand und aktuellen Arztberichten basieren. Danach seien alle Therapieversuche ausgeschöpft beziehungsweise aufgrund von Unverträglichkeiten abgebrochen worden. Die Synkopen hätten nach der neunten Wirbelsäulenoperation im Januar 2016 an Häufigkeit zugenommen. Sie habe jedes Mal Gehirnerschütterungen und Hämatome im Gesicht und am Kopf erlitten. Es seien ausschlussdiagnostische Untersuchungen durch den behandelnden Hausarzt Dr. Z eingeleitet worden, die ergebnislos geblieben seien. Seit Mitte August 2016 werde einmal täglich einschleichend Sativex® gesprüht. Hierdurch könne sie neben den Tramadoltropfen auf die Einnahme von Stilnox verzichten. Die massiven Schlafprobleme hätten sich gebessert. Seit dem Absetzen von Tramadol seien keine Synkopen mehr aufgetreten. Dem Widerspruchsschreiben waren Arztberichte des Hausarztes Dr. Z vom 06.09.2016 (Bl. 31 f. der Verwaltungsakte), des Psychologen Dr. W vom 02.09.2016 (Bl. 29 f. der Verwaltungsakte), des Neurologen Dr. K vom 01.12.2014 und vom 29.08.2016 (Bl. 27 f. der Verwaltungsakte) beigefügt, auf deren Inhalt Bezug genommen wird.
Die Beklagte ...