Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittel. Versorgung mit festbetragsübersteigenden Hörgeräten. Freiburger Sprachtest mit eigenanteilsfreien Geräten
Leitsatz (amtlich)
Die Versorgung mit einem Hörgerät, das über dem Festbetrag liegt, kann nicht allein deshalb abgelehnt werden, weil der Versicherte beim Freiburger Sprachtest mit Geräten, die eigenanteilsfrei sind, ein gleiches Hörverständnis erreicht hat.
Orientierungssatz
Aktenzeichen beim LSG Hamburg: L 1 KR 70/16
Tenor
1. Der Bescheid vom 11.12.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2015 wird geändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger beidseitig mit dem Hörgerät S. zu versorgen.
3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die beidseitige Versorgung des Klägers mit den Hörgeräten S..
Der am ...1962 geborene Kläger ist Mitglied der Beklagten. Er leidet unter einer hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit (Perzeptionsschwerhörigkeit) und ist seit 2006 mit Hörgeräten versorgt. Im August 2014 stellte der behandelnde Ohrenarzt die Notwendigkeit einer Neuversorgung fest. Zur Neuversorgung führte der Kläger ab August 2014 eine Hörgeräteanpassung durch. Der Freiburger Sprachtest erbrachte jeweils rechts und links ein Sprachverstehen von 90 % ohne Störschall und 85 % mit Störschall für fünf verschiedene Geräte, wovon zwei zuzahlungsfrei waren (V. und I.) und drei nicht (zweimal L., M.). Zur Alltagstestung trug der Kläger die unterschiedlichen Geräte jeweils ein bis zwei Wochen und füllte einen Testbogen, mit dem sowohl das Hörverständnis in verschiedenen Alltagssituationen wie auch die Hörqualität der jeweiligen Geräte abgefragt wurden, aus. In dieser Alltagstestung erbrachte das Gerät L. die besten Ergebnisse.
Der Kläger erreichte mit diesem Gerät in verschiedenen Situationen ein überwiegendes Hörverständnis gegenüber 50 % bis selten mit den anderen Geräten. Daher übersandte der Hörgeräteakustiker der Beklagten einen Kostenvoranschlag in Höhe von 6.684,00 Euro für die beidseitige Versorgung mit dem Gerät L.. Am 10.12.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Versorgung mit diesen Hörgeräten.
Den Antrag des Klägers lehnte die Beklagte - damals noch BKK vor Ort - mit Bescheid vom 11.12.2014 ab. Versicherte hätten nach § 33 I Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) An-spruch auf die notwendige Versorgung. Laut Vertrag über die Versorgung mit Hörsystemen gemäß § 127 SGB V seien die Hörgeräteakustiker verpflichtet, eine ausreichende, zweck-mäßige, qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgung zur Verfügung zu stellen und für die Versicherten eigenanteilsfreie Angebote für alle Schwerhörigkeitsgrade bereit zu stellen. Bei einer Versorgung, die über das Maß des Notwendigen hinausgehe, bestehe keine Leistungspflicht. Die Versicherten müssten die Kosten selbst tragen. Dies gelte insbesondere für mit einem Gerät verbundene Vorteile, die nicht die Funktionalität, sondern den Komfort beträfen oder ästhetischer Natur seien. Für das vom Kläger begehrte Gerät bestehe keine Leistungspflicht. Zur Begründung verwies die Beklagte auf die Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Dr. B. (HNO) hatte für den MDK ausgeführt, die Neuversorgung sei medizinisch notwendig, die Kostenübernahme für zwei Geräte der Gruppe 12 werde befürwortet. Bei dem Kläger liege nach dem audiometrischen Muster keine Ausnahmesituation, sondern eine häufige Erscheinung vor, die auch an die Hörgerätetechnik keine überdurchschnittlichen Anforderungen stelle. Eine Versorgung außerhalb des Festbetrages sei beim Kläger nicht notwendig.
Gegen den Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben vom 29.12.2014 Widerspruch und verwies u.a. auf die Testbögen. Im März 2015 teilte der Kläger der Beklagten mit, er habe der Empfehlung der Beklagten folgend einen neuen Anpassungsvorgang bei einem anderen Hörgeräteakustiker durchgeführt. Danach begehre er nun die Versorgung mit anderen Geräten, die günstiger seien als die zunächst beantragten. Er legte hierzu einen Kostenvoranschlag für zwei Geräte S. in Höhe von insgesamt 4.454,00 Euro vor. Nach dem Anpassungsprotokoll erzielte der Kläger mit dem eigenanteilsfreien Gerät P. 80 % Sprachverstehen ohne Störschall und 75 % mit Störschall. Bei den zuzahlungspflichtigen Geräten P. und dem schließlich ausgesuchten Gerät erzielte er gleichermaßen 90 % Sprachverstehen ohne Störschall und 80 % (P.) bzw. 85 % (S.) mit Störschall. Die Testbögen zur Alltagstestung belegten ein nahezu identisches Ergebnis für das Gerät von S. und das zunächst ausgewählte. Die anderen in diesem Anpassungsvorgang getesteten Geräte zeigten schlechtere Ergebnisse (Hörverständnis in verschiedenen Situationen 50 % bis selten.
In einer erneuten Stellungnahme verwies Dr. B. auf den während des ersten Anpassungsvorgangs erreichten Hörerfolg von 90 % mit allen Geräten und hielt daher eine Versorgung über dem Festbetrag weiterhin nicht für notwendig. Mit Widerspruchsbescheid ...