Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Zweipersonenhaushalt in Baden-Württemberg. Angemessenheitsprüfung. Nichtvorliegen eines schlüssigen Konzepts. Heranziehung der Durchschnittswerte eines qualifizierten Mietspiegels. fehlende Prüfung der tatsächlichen Verfügbarkeit angemessener Unterkünfte
Leitsatz (amtlich)
1. Abweichend zur Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 13.4.2011 - B 14 AS 106/10 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 46 kann nunmehr, zehn Jahre nach Ergehen besagter Entscheidung und über die Jahre zugenommener Verknappung des Angebots an Mietwohnungen, nicht davon ausgegangen werden, dass bei Anwendung des Durchschnittswertes des maßgeblichen qualifizierten Mietspiegels in ausreichendem Maße Wohnungen zu dem abstrakt angemessenen Quadratmeterpreis im örtlichen Vergleichsraum vorhanden sind.
2. Sofern in einem Vergleichsraum viermal so viele Mietwohnungen statt öffentlich vielmehr nicht-öffentlich angeboten werden, kann nicht von einer allgemeinen Verfügbarkeit der Wohnungen zu der in einem Konzept ermittelten Miete ausgegangen werden.
3. Die Wohnungen eines bestimmten Vergleichsraums, die Basis für ein schlüssiges Konzept bilden sollen, müssen für jedermann im überwiegenden Maße zugänglich sein. Eine frisch zugezogene aber hilfebedürftige Person ohne familiäre, berufliche oder anderweitig soziale Beziehungen oder Netzwerke kann ihre Suche grundsätzlich nur auf die öffentlich-inserierten Mietwohnungen erstrecken.
4. Schätzungen zugunsten der Leistungsbezieher, die sich auf einen höheren angemessenen Quadratmeterpreis auswirken, jedoch den tatsächlichen Gegebenheiten zuwiderlaufen, führen zur Unschlüssigkeit des Konzepts. Eine Datengrundlage für die Bestimmung der angemessenen Bruttokaltmiete kann nur dann als ausreichend angesehen werden, sofern sämtliche tatsächliche Gegebenheiten und Besonderheiten des maßgeblichen Vergleichsraums berücksichtigt werden und gerade nicht durch willkürliche Anpassungen zu Ungunsten, aber auch zu Gunsten, der Leistungsbezieher verfälscht werden.
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 23.03.2020, 31.03.2020 und 26.05.2020, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.08.2020, verurteilt, den Klägern für den Zeitraum vom 01.01.2020 bis zum 30.06.2020 weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 106,50 € als Kosten der Unterkunft zu bewilligen.
2. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten.
Tatbestand
Die Kläger begehren die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II) unter Berücksichtigung der nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) angemessenen Kosten der Unterkunft vom 01.01.2020 bis 30.06.2020.
Die Kläger stehen bei dem Beklagten seit längerem im laufenden Leistungsbezug. Der Kläger zu 1) ist Vater des minderjährigen Klägers zu 2). Letzterer hält sich wechselseitig zu etwa gleichen Teilen im Haushalt beider Elternteile auf. Die tatsächliche Bruttokaltmiete des Klägers zu 1) betrug damals 710,00 €, die Heizkosten 60,00 €.
Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 28.11.2019 bewilligte ihnen der Beklagte mit Bescheid vom 23.03.2020 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.01.2020 bis 30.06.2020 in Höhe von monatlich 961,36 €. Hierbei berücksichtigte er an Kosten der Unterkunft und Heizung vor Einkommensanrechnung einen Bedarf von 590,40 € (Grundmiete: 470,40 €; Heizkosten: 60,00 €; Nebenkosten: 60,00 €).
Auf den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 27.03.2020, die Einkünfte des Klägers zu 1) seien ab März 2020 wegen pandemiebedingter Kündigung weggefallen, bewilligte der Beklagte nunmehr mit Bescheid vom 31.03.2020 abschließend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.01.2020 bis 30.04.2020 in Höhe von monatlich 1.094,36 € und mit weiterem Bescheid vom 31.03.2020 abschließend für den Zeitraum vom 01.05.2020 bis zum 30.06.2020 in Höhe von monatlich 1.201,36 €. Hierbei berücksichtigte er an Kosten der Unterkunft und Heizung weiterhin einen Bedarf von 590,40 €.
Nach Einreichung der Nebenkostenabrechnung für das Jahr 2019 hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 31.03.2020 betreffend die Leistungen bis Februar 2020 mit Änderungsbescheid vom 26.05.2020 auf und bewilligte stattdessen für Februar 2020 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 2.596,18 €. Hierbei berücksichtigte er an Kosten der Unterkunft und Heizung nunmehr einen Bedarf von 2.092,22 € (Grundmiete: 470,40 €; Heizkosten: 60,00 €; Nebenkosten: 1.561,82 €).
Den Widerspruch vom 27.03.2020 wies der Beklagte schließlich mit Widerspruchsbescheid vom 19.08.2020 - bei den Klägern eingegangen am 11.09.2020 - als unbegründet zurück.
Dagegen haben die Kläger am 08.10.2020 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Sie sind der Ansicht, das Konzept der Stadt B.-B., auf das der Beklagte ...