Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs des Sozialhilfeträgers gegen den Rentenversicherungsträger bei dem Versicherten gewährter Rente - Rentenbeginn
Orientierungssatz
1. Der Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegenüber dem Rentenversicherungsträger nach § 95 SGB 12 i. V. m. § 104 Abs. 1 SGB 10 setzt einen bestehenden vorrangigen Anspruch des Versicherten gegen den Rentenversicherungsträger voraus.
2. Erst ab dem Zeitpunkt, von welchem an dem Versicherten Rente vom Rentenversicherungsträger gewährt wird, besteht danach ein Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers. Das Antragserfordernis schützt die Dispositionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Leistungsberechtigten.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger als Träger der Sozialhilfe verlangt von der Beklagten als Trägerin der Rentenversicherung die Zahlung von Erwerbsminderungsrente für die Zeit vom 01.09.2017 bis 30.04.2018.
Der Versicherte A. besucht langjährig eine Werkstatt für behinderte Menschen. Er ermächtigte durch seine Betreuer den Kläger zur Stellung eines Antrages auf Erwerbsminderungsrente bei der Beklagten am 09.05.2018.
Mit Bescheid vom 09.10.2018 lehnte die Beklagte den Antrag zunächst wegen mangelnder Mitwirkung des Betroffenen ab.
Mit Bescheid vom 21.11.2018 gewährte die Beklagte dann Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.05.2018 und informierte entsprechend den Kläger.
Mit Schreiben vom 13.12.2018 legte der Kläger Widerspruch ein. Der Versicherte haben bereits zum 01.09.2017 die Voraussetzungen für eine Rente wegen dauerhafter Erwerbsminderung erfüllt, sodass gemäß § 104 SGB X rückwirkende Erstattung geltend gemacht werde. Nach der - zwar zum BaföG ergangenen - Entscheidung des BVerwGs vom 23.01.2014 komme es nicht darauf an, ob tatsächlich ein Antrag gestellt worden sei. Die Beklagte vertrat demgegenüber unter Verweis auf eine - zur Pflegeversicherung entgangene - Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 11.12.2015 die Auffassung, dass ein Leistungsantrag materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung sei.
Am 16.11.2021 ist die Klage beim Sozialgericht Kassel eingegangen.
Der Kläger wiederholt und vertieft seine Auffassung.
Der Kläger beantragt,
1. auf der ersten Stufe den Beklagten zu verurteilen, Auskunft zu erteilen, in welcher Höhe dem Leistungsberechtigten Herrn A., geb. 1978 für den Zeittraum 01.09.2017 bis 30.04.2018 unabhängig vom Vorliegen eines rechtzeitigen Antrags gegenüber dem Beklagten ein Anspruch auf Rente (wegen voller Erwerbsminderung) zusteht und
2. auf der zweiten Stufe den Beklagten nach Erteilung der Auskunft gern. Ziffer 1 zur Erstattung des sich aus der Auskunft ergebenden zu beziffernden Betrags an den Kläger nebst Zinsen nach Maßgabe von § 108 Abs. 2 SGB X zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte wiederholt und vertieft ihre Auffassung. Sie teilt - zur Frage des Gerichts nach dem Streitwert mit -, dass sich der streitige Anspruch auf 6.162,72 EUR belaufe.
Mit Schreiben vom 20.05.2022 hat der Kläger und mit Schreiben 23.05.2022 hat die Beklagte vom Einverständnis mit einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen, insbesondere zum Vorbringen der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte der Klägerin Bezug genommen, die Gegenstand dieser Entscheidung waren.
Entscheidungsgründe
Die Kammer kann durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG.
Die Klage hat keinen Erfolg.
Für den Antrag zu 1) auf Auskunftserteilung besteht nach dem Schreiben der Beklagten vom 24.11.2021 kein Bedürfnis mehr und im Übrigen nach dem Ergebnis zum Antrag zu 2) kein Anlass.
Der Leistungsantrag zu 2) ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung der Rente des Versicherten für den Zeitraum 01.09.2017 bis 30.04.2018.
Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 104 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 95 SGB XII. Nach § 104 Abs. 1 SGB X ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre.
Im Zeitraum 01.09.2017 bis 30.04.2018 bestand jedoch kein vorrangiger Anspruch des Betroffenen gegenüber der Beklagten. Zwischen den Beteiligten unstreitig war dieser zwar voll erwerbsgemindert und hatte auch die versicherungsrechtlichen Voraus...