Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Impfschadensrecht. Impfung gegen "Schweinegrippe" (H1N1-Virus). Narkolepsie. besondere genetische Disposition. Anerkennung einer Kann-Versorgung. Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung für typische Impfreaktion unmittelbar nach der Impfung. atypische Impfreaktion auch mehrere Monate nach der Impfung möglich
Leitsatz (amtlich)
Die Impfung gegen die Schweinegrippe im Jahr 2009 mit dem Impfstoff Pandemrix kann Narkolepsie verursacht haben. Es liegen ausreichende medizinische Erkenntnisse für eine Anerkennung im Wege der Kannversorgung vor. Der Eintritt von atypischen Impfreaktionen kann auch mehrere Monate nach der Impfung erfolgen.
Orientierungssatz
1. Da bei Impfungen üblicherweise durch den Arzt darauf hingewiesen wird, dass einige Impfreaktionen normal seien und deshalb ein Arztbesuch nicht erforderlich sei, ist es unerheblich, dass typische Impfreaktionen (gerötete Impfstelle und Muskelschmerzen) nicht ärztlich dokumentiert sind.
2. Die Schädigungsfolge ist trotz genetischer Disposition im Sinne der Entstehung und nicht nur im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen, wenn es keine Anzeichen dafür gibt, dass das Krankheitsbild bereits vor der Impfung ausgebrochen war.
Tenor
1. Der Bescheid des Beklagten vom ... in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ... wird aufgehoben.
2. Der Beklagte wird verurteilt, eine Narkolepsie im Sinne der Entstehung als Folge der Impfung am 27.11.2009 anzuerkennen und der Klägerin Beschädigtenversorgung nach § 60 IfSG nach einem GdS von 60 ab Antragstellung zu gewähren.
3. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Versorgung nach § 60 Infektionsschutzgesetz (IfSG).
Die am ...1997 geborene Klägerin wurde am 27.11.2009 durch den Internisten Dr. P. aus L mit den Impfstoff Pandemrix gegen Influenza (Virusgrippe) geimpft. Die Impfung erfolgte seinerzeit im Rahmen einer Impfkampagne gegen die so genannte Schweinegrippe (H1N1-Virus).
Vom 13.08.2014 bis zum 21.08.2014 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung im Klinikum in K. Als Diagnose wurde ein dringender Verdacht auf Narkolepsie (Schlafkrankheit) ohne Kataplexie (emotionsbedingt auftretende kurzzeitiger Verlust des Muskeltonus ohne Bewusstseinstrübung) angegeben. In der Anamnese wurde ausgeführt, die Klägerin habe in den letzten Jahren eine zunehmende Tagesmüdigkeit verspürt. In monotonen Situationen, auch in der Schule in ihr weniger liegenden Fächern, neige sie zum Einschlafen und könne sich nicht wachhalten. Sie schlafe dann je nach Situation teils für Minuten, teils für Stunden, bis sie wieder von alleine erwache. Der Nachtschlaf gestalte sich hierbei schwierig. Die Symptome hätten begonnen, nachdem sie im Jahr 2010 gegen Schweinegrippe geimpft worden sei. Während der stationären Behandlung bestätigte sich der dringende Verdacht. Es wurde eine Behandlung der Klägerin mit Methylphenidat eingeleitet.
In einem Arztbrief vom 10.09.2014 führte Frau Dr. B. vom Institut für Humandiagnostik aus, bestimmte HLA-Typen (humanes Leukozytenantigen-System) seien unter Umständen ein Indikator für eine besondere Disposition bei bestimmten Krankheiten. Für die Narkolepsie sei eine sehr enge Assoziation festgestellt worden mit einem bestimmten HLA-Typ, der auch bei der Klägerin vorliege. Die Typisierung diene nur als Marker und zur Untermauerung der Diagnosesicherheit.
Mit Schreiben vom 31.10.2014 beantragte die Klägerin die Gewährung von Versorgung gemäß § 60 IfSG. Sie gab an, sie sei ab April/ Mai 2010 tagsüber sehr müde gewesen. Sie sei nach der Schule nach Hause gekommen, habe Hausaufgaben machen wollen und sei dabei eingeschlafen oder habe sich gleich hingelegt und über Stunden hinweg geschlafen. Auch morgens habe sie große Probleme beim Aufstehen gehabt, was ihr bis dahin noch nie schwer gefallen sei. Bei Autofahrten sei sie meist nach wenigen Minuten eingeschlafen, ebenso beim Fernsehen. Beim Aufwachen sei sie sehr verstört, erschreckt und desorientiert gewesen. Innerhalb eines Dreivierteljahres habe sie zehn Kilo an Gewicht zugenommen. Die schulischen Leistungen hätten nachgelassen. Gespräche mit Lehrern seien an der Tagesordnung gewesen, weil sie während des Unterrichtes eingeschlafen sei. Sowohl ihre Eltern als auch die Lehrer hätten dies auf die Pubertät und die allgemein bekannte Teenagermüdigkeit zurückgeführt. Nunmehr sei aber die Diagnose Narkolepsie gestellt worden.
Das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung zog Berichte und Unterlagen der behandelnden Ärzte bei. Dr. B. erstattete am 27.02.2015 eine sozialmedizinische versorgungsärztliche Stellungnahme. Er führte aus, die Impfung mit Pandemrix habe der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation und einem Beschluss der Europäischen Union entsprochen, im Fall einer Schweinegrippe-Pandemie diesen Impfstoff als Prophylaxe einzusetzen. In Deutschland hätten sich das Bundesministerium für Gesundheit und die Bundesländer diese...