Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Schädigung der Leibesfrucht durch Alkoholkonsum der Mutter. keine analoge Anwendung des § 1 OEG
Leitsatz (amtlich)
Erleidet ein Kind infolge des Alkoholkonsums der Mutter während der Schwangerschaft eine Gesundheitsschädigung, besteht kein Anspruch auf Opferentschädigung in entsprechender Anwendung von § 1 Abs 1 S 1 OEG auch wenn die Mutter die Gesundheitsschädigung billigend in Kauf genommen hat.
Nachgehend
Tenor
Die Klage wird abgewiesen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die Klägerin wurde am ... 2005 als Kind einer alkoholkranken Mutter geboren. Ausweislich des Befundberichtes des sozialpädiatrischen Zentrums der Kinderzentrum M. GmbH vom 28.02.2008 leidet sie an einer globalen Entwicklungsverzögerung, an einer Wahrnehmungsverarbeitungsstörung mit Schwerpunkt Körperwahrnehmung und an einem Mikrocephalus. Sie sei durch ihre Mutter freiwillig in Pflege gegeben worden, da deren gesundheitliche und erzieherische Kompetenz überschritten sei. Die Klägerin habe bereits unmittelbar nach der Geburt an Entzugssymptomen gelitten. Sie sei in allen Bereichen entwicklungsretardiert. Mit Bescheid vom 10.3.2009 stellte der Beklagte bei ihr wegen einer globalen Entwicklungsverzögerung bei Alkoholembryopathie ab dem 07.10.2008 ein Grad der Behinderung von 50 fest.
Im Rahmen der Amtspflegschaft für die Klägerin beantragte das Jugendamt des Landkreises B. am 18.02.2009 die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem OEG beim Beklagten. Dieser lehnte den Antrag mit Bescheid vom 30.04.2009 ab. Die Konsumtion des Alkohols durch die Mutter während der Schwangerschaft erfolgte infolge eines krankhaften Suchtverhaltens in fahrlässiger bzw. leichtfertiger Weise, ohne damit den Vorsatz eines tätlichen Angriffs i.S.v. des OEG verwirklichen zu wollen. Darüber hinaus erfülle das ungeborene Leben im Mutterleib noch nicht die Voraussetzungen einer rechtsfähigen natürlichen Person. Hiergegen erhob die Klägerin am 22.05.2009 Widerspruch. Der Anspruch scheitere nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht daran, dass das Kind erst nach dem schädigenden Ereignis auf die Welt gekommen sei. Die Kindesmutter habe gewusst, was für ein gesundheitlicher Schaden für das ungeborene Kind entstehe, wenn sie Alkohol trinke. Zwei ältere Kinder seien bereits verstorben. Mindestens das letztere verstorbene Kind sei mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Folgen des Alkoholmissbrauchs der Mutter verstorben. Leistungen nach dem OEG seien auch dann zu gewähren, wenn der Täter schuldunfähig sei. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.06.2011 als unbegründet zurück. Die Klägerin sei kein Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Der Alkoholmissbrauch der Mutter stelle zweifellos kein strafrechtlich relevantes Verhalten dar. Ein vorsätzliches Verhalten der Mutter sei ebenfalls nicht anzunehmen.
Hiergegen hat die Klägerin am 29.06.2011 Klage erhoben. Auch die ungeborene Leibesfrucht sei leistungsberechtigt nach dem OEG. Nach § 1 Abs. 2 OEG stehe einem tätlichen Angriff i.S.d. des Abs. 1 auch die vorsätzliche Beibringung von Gift gleich. Der Mutter der Klägerin sei klar gewesen, dass durch den Alkohol das ungeborene Kind geschädigt worden sei. Es könne keinen Unterschied machen, ob das ungeborene Kind durch einen Dritten oder die Mutter selbst geschädigt werde.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid des Beklagten vom 30.04.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.06.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr unter Anerkennung einer globalen Entwicklungsverzögerung bei Alkoholembryopathie als Schädigungsfolge eine Beschädigtenversorgung nachdem OEG nach einem GdS von mindestens 50 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG komme in dem vorliegenden Fall allenfalls eine analoge Anwendung von § 1 OEG in Betracht. Eine planwidrige Gesetzeslücke sei allerdings nicht zu erkennen. Bei den so genannten Inzestfällen sei die Analogie damit gerechtfertigt worden, dass ein Verstoß gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Mutter vorliege. Eine solche Verletzung des Selbstbestimmungsrechts sei hier aber nicht gegeben. In dem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft sei auch kein Verstoß gegen die Rechtsordnung zu sehen. Die Klägerin sei innerhalb der sozialen Sicherungssysteme auch nicht schutzlos gestellt. Darüber hinaus sei fraglich, ob überhaupt ein vorsätzliches Handeln der Mutter der Klägerin gegeben gewesen sei. Hierbei komme allenfalls ein bedingter Vorsatz in Betracht. Ob ein solcher tatsächlich vorgelegen habe, sei im Hinblick auf die Alkoholerkrankung der leiblichen Mutter zweifelhaft. Soweit man...