Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Praxisbesonderheit. Prävalenzprüfung. Berücksichtigung von Unschärfen bei der Ermessensausübung. Vergleichbarkeit mit der Prüfgruppe. patientenbezogene Ermittlung der Diagnosen und der Abrechnungshäufigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Mit der Prävalenzprüfung, bei der der Beklagte zur Ermittlung einer Praxisbesonderheit das Verhältnis der F-Diagnosen nach der PT-Richtlinie (juris: PsychThRL 2009) zu den abgerechneten GOP 35110 EBM (juris: EBM-Ä 2008) bildet und dieses mit der Prüfgruppe vergleicht, sind Unschärfen verbunden, die bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.
2. Eine Vergleichbarkeit mit der Prüfgruppe kann nur hergestellt werden, wenn sowohl die Ermittlung der F-Diagnosen als auch die Abrechnungshäufigkeit der GOP 35110 EBM patientenbezogen erfolgen.
Orientierungssatz
Hinweis der Dokumentationsstelle des BSG: Die Entscheidung ist durch Beschluss des SG Marburg vom 24.2.2023 - S 17 KA 234/21 berichtigt worden.
Tenor
1. Der Beschluss des Beklagten vom 5. August 2021 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
2. Der Beklagte trägt 70% der Gerichtskosten, der Kläger 30%. Der Beklagte trägt 70% der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Gegenstand des Widerspruchsverfahrens sind die Honorarprüfungen für die Quartale I/2015 bis IV/2015 wegen eines offensichtlichen Missverhältnisses" im Vergleich zur Fachgruppe (nachfolgend: FG) bei der GOP 35110 (Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM).
Der Kläger ist seit dem 2. Januar 1998 in einer Einzelpraxis in A-Stadt niedergelassen und nimmt seither an der vertragsärztlichen Versorgung teil.
Das Prüfverfahren wurde von Amts wegen eingeleitet, weil der Kläger mit den angesetzten Leistungen in den geprüften Quartalen über dem Fachgruppendurchschnitt lag. Zunächst stellte die Prüfungsstelle (PS) fest, dass es sich um eine Praxis mit einer deutlich unterdurchschnittlichen Fallzahl handele bei deutlich überdurchschnittlichem Rentneranteil. Für die GOP 35110 seien in den einzelnen Quartalen bezogen auf alle Fälle der Praxis zwischen 7,80 € je Fall und 10,57 € je Fall abgerechnet worden. Dies entspreche einer Überschreitung zu den ausführenden Ärzten der FG der vollzugelassenen Allgemeinärzte/Hausärztlichen Internisten in Hessen von 500 % bis 700 %. Die verbale Intervention nach GOP 35110 werde in den vier Quartalen des Jahres 2015 insgesamt 1.340-mal angesetzt. Die 1.340 Ansätze seien bei 263 Patienten erfolgt. Insgesamt sei hierfür ein Honorar von 21.145,20€ angefordert worden. Der häufigste Ansatz sei bei der Patientin C. versichert bei der Knappschaft mit 33 x GOP 35110, gefolgt von D. versichert bei der BARMER mit 26 x GOP 35110.
Auch in den Quartalen I/2016 bis IV/2016 seien die Durchschnittswerte der Fachgruppe zwischen 291% und 410% überschritten. Aufgrund eines niedrigeren Gesamtfallwertes bei der GOP 35110 gegenüber 2015 sei aber für 2016 auf die Einleitung eines Prüfverfahrens verzichtet worden.
Mit Schreiben vom 11. Dezember 2017 teilte die PS dem Kläger die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit hinsichtlich seiner Leistungserbringung bezogen auf die Leistungsziffer GOP 35110 des EBM mit und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten.
In seiner Stellungnahme vom 5. Februar 2018 führte der Kläger aus, dass sich eine Praxisbesonderheit aus dem besonderen Patientenklientel ergebe. Der Anteil der Mitbürger in A-Stadt mit Migrationshintergrund liege bei etwa einem Drittel der Bevölkerung. Der Ausländeranteil für A-Stadt belaufe sich auf circa 20-22,9%, was annähernd dem Doppelten des hessischen Anteils von 11,9 % entspreche. Hinzu komme, dass der Stadtteil A-Stadt-G. als sozialer Brennpunkt in A-Stadt gelte. Es liege auf der Hand, dass Bevölkerungsgruppen mit sozialen Problemen am ehesten anfällig für psychosomatische Erkrankungen seien. In diesem Stadtteil habe er bis 2011 seine Praxis gehabt. Daher habe er bis heute viele Patienten aus dem westlichen Teil A-Stadts. Die psychosomatischen Gesprächsziffern rechne er bereits seit seiner Niederlassung im Jahre 1998 ab. Die Versorgungssituation mit psychischen Erkrankungen verschärfe sich noch sehr deutlich dadurch, dass Patienten auf einen Therapieplatz bei einem Psychotherapeuten teilweise über sechs Monate lang warten müssten.
Die PS führte daraufhin im Bereich der psychosomatischen Versorgung Prävalenzprüfungen bei der GOP 35110 EBM gemäß den ICD-Verschlüsselungen durch. Nach § 22 Abs. 1 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über die Durchführung der Psychotherapie (a. F.) sein die Indikationen zur Anwendung von Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung die ICD-Verschlüsselungen F32, F33, F34.1, F40-F45, F50-F52, F60-F69, F90-F98. Als Ergebnis dieser Prüfung sei ein Mehransatz gegenüber der FG festgestellt worden und...