Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsarztrecht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Mit der Prävalenzprüfung, bei der der Beklagte zur Ermittlung einer Praxisbesonderheit das Verhältnis der F-Diagnosen nach der PT-Richtlinie zu den abgerechneten GOP 35110 EBM bildet und dieses mit der Prüfgruppe vergleicht, sind Unschärfen verbunden, die bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.

2. Eine Vergleichbarkeit mit der Prüfgruppe kann nur hergestellt werden, wenn sowohl die Ermittlung der F-Diagnosen als auch die Abrechnungshäufigkeit der GOP 35110 EBM patientenbezogen erfolgen.

3. Die Zielsetzung der psychosomatischen Grundversorgung besteht nach den Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinie in einer seelischen Krankenbehandlung, die während der Behandlung von somatischen, funktionellen und psychischen Störungen von Krankheitswert durchgeführt werden kann. Insoweit können funktionelle Störungen von Krankheitswert Anlass für eine verbale Intervention nach der GOP 35110 EBM sein, wenn mit dieser Störung eine seelische Belastung einhergeht.

4. Eine anerkannte Praxisbesonderheit, die sich in einer besonderen Häufung der Abrechnung der GOP 35110 EBM niederschlägt, kann nicht mit einer rein pauschalen Schätzung eines Mehrbehalts von +200% zur Vergleichsgruppe abgegolten werden.

 

Tenor

Der Beschluss des Beklagten vom 12. Januar 2021 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Honorarprüfungen betreffend die Quartale I/2015 bis IV/2016 wegen eines „offensichtlichen Missverhältnisses" im Vergleich zur Fachgruppe (FG) bei der Gebührenordnungsposition (GOP) 35110 (verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM).

Die Klägerin, hausärztlich tätige Fachärztin für Innere Medizin, war im streitgegenständlichen Zeitraum in einer Einzelpraxis in A-Stadt niedergelassen und nahm an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Sie verfügt über die Zusatzbezeichnung „Psychotherapie“.

Das Prüfverfahren wurde durch die Prüfungsstelle (PS) von Amts wegen eingeleitet. Es wurden folgende Auffälligkeiten festgestellt:

Qtl.

GO- NR.

Anz.-GO-NR. je 100-Fälle- Praxis

Durch. je Fall-Praxis

Anz.-GO-NR. je 100-Fälle ausf. Praxen

Durch. je Fall ausf. Praxen-PG

Abw. in %

2015/1

35110 

47    

7,44   

8       

1,32   

+463,64

2015/2

35110 

48    

7,60   

8       

1,32   

+475,76

2015/3

35110 

48    

7,52   

8       

1,29   

+482,95

2015/4

35110 

53    

8,34   

8       

1,30   

+541,54

2016/1

35110 

43    

6,93   

8       

1,22   

+468,03

2016/2

35110 

52    

8,28   

8       

1,24   

+567,74

2016/3

35110 

49    

7,79   

7       

1,16   

+571,74

2016/4

35110 

52    

8,38   

7       

1,13   

+641,59

Mit Schreiben vom 27. Februar 2018 teilte die PS der Klägerin die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit hinsichtlich ihrer Leistungserbringung bezogen auf die GOP 35110 EBM mit und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten und kompensatorischer Einsparungen.

Die Klägerin legte daraufhin dar, dass Schwerpunkt ihrer Praxistätigkeit aufgrund der Zusatzbezeichnung „Psychotherapie“ die sprechende Medizin sei. Aus den Diagnosen der Patient*innen, die bei ihr regelmäßig behandelt worden seien, ergebe sich, dass viele Patient*innen mit psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen regelmäßig in ihrer Praxis behandelt würden und auch nach Beendigung einer psychotherapeutischen Behandlung in der Praxis verblieben seien und weiterhin mit der verbalen Intervention bei psychosomatischen Beschwerden nach der GOP 35110 EBM von ihr behandelt worden seien. Dies sei in der Zeit zur Abklärung von notwendigen psychotherapeutischen Behandlungen oder auch zur Krisenintervention bei akuten psychischen Krisen geschehen und auch um stationäre Behandlungen in psychosomatischen Kliniken zu überprüfen oder auch selbige überflüssig zu machen oder zu verhindern. Auch nach Abschluss von Psychotherapien und stationären psychosomatischen Behandlungen in der Reha sei von ihr regelmäßig die verbale Intervention erfolgt, um die Erfolge dieser Behandlungen zu stabilisieren. Dies sei sicher eine Praxisbesonderheit bei ihr, die sich entsprechend im Abrechnungsverhalten wiederspiegele. Dazu sei auch nicht die GOP 03230 EBM (Problemorientiertes Ärztliches Gespräch) geeignet, die sie im hausärztlichen Bereich bei den chronisch kranken Patienten natürlich ebenfalls angewandt habe. Zudem seien die Fallzahlen ihrer Praxis im Vergleich zu den anderen hausärztlichen Praxen deutlich geringer gewesen. Aufgrund ihrer besonderen Ausbildungs- und Arbeitssituation als hausärztliche Internistin und Psychotherapeutin hätten besonders viele psychosomatisch erkrankte Patienten ihre Praxis aufgesucht und seien ihr über die Jahre treu geblieben, weil sie von dieser Behandlung profitiert hätten und insgesamt teure apparative Untersuchungen, gegebenenfalls auch Operationen und Krankenhausaufenthal...

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