Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende und Sozialhilfe. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit. vorläufige Entscheidung nach § 41a Abs 7 SGB 2. Nichtvollziehung der Ausreisepflicht. Verfassungsmäßigkeit. Europarechtskonformität
Leitsatz (amtlich)
1. Der seit 29.12.2016 gültige Leistungsausschluss für Ausländer nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II und § 23 Abs 3 SGB XII ist weder verfassungsrechtlich noch europarechtlich zu beanstanden.
2. Ein leistungsbegründendes Aufenthaltsrecht mittels selbständiger Erwerbstätigkeit setzt eine tatsächliche Teilnahme am Wirtschaftsleben voraus. Die Existenz einer Anwaltszulassung und eines Büros allein genügen dafür nicht.
3. Es besteht auch kein Anspruch auf vorläufige Leistungen nach § 41a Abs 7 SGB II, weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht vorliegen. Die ab 29.12.2016 gültigen entscheidungserheblichen Vorschriften sind nicht Gegenstand eines Verfahrens am BVerfG oder BSG.
4. Weil Arbeitslosengeld II grundsätzlich keine ins Ausland zu exportierende Leistung ist, ergibt der bestehende Leistungsausschluss nur für in Deutschland lebende Ausländer Sinn. Auch aus diesem Grund kann der Nichtvollzug einer eventuellen Ausreiseverpflichtung keinen Leistungsanspruch begründen.
Tenor
I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Eilverfahren Arbeitslosengeld II vom Antragsgegner. Er ist bulgarischer Staatsangehöriger mit einer Rechtsanwaltszulassung in Deutschland.
Der 1964 geborene Antragsteller war als Rechtsanwalt in Bulgarien tätig. Nach seinem Vortrag im Klageverfahren S 45 AS 836/15 reiste er im Oktober 2013 nach Deutschland ein. Er verfügt seit 07.11.2013 über eine Zulassung als Rechtsanwalt in Deutschland kraft europäischem Recht. Von Juni bis Dezember 2015 arbeitete der Antragsteller im Rahmen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung als Lagerarbeiter.
Der Antragsteller wohnt in A-Stadt in einer Mietwohnung mit drei Zimmern für insgesamt monatlich 1.000,- Euro Bruttowarmmiete. Ein schriftlicher Mietvertrag existiert nicht. Die Wohnung und die Kosten der Wohnung teilt er sich mit einer Mitbewohnerin.
Am 25.02.2016 beantragte der Antragsteller erstmals Leistungen beim Antragsgegner. Er arbeite seit Januar 2016 als Rechtsanwalt. Er habe Kanzleiräume gemietet. Büromaterial, Telefon, Porto etc. rechne er quartalsweise mit seinem Anwaltskollegen ab; bis Mitte März 2016 seien - ohne Miete - 98,52 Euro angefallen. Vorgelegt wurde ein Nachweis zu Beitragsrückständen in der Versorgungskammer. Mit Schreiben vom 25.04.2016 teilte der Antragsteller der gesetzlichen Krankenkasse mit, dass er seine Tätigkeit als Rechtsanwalt nur unregelmäßig ausübe und keine Einkünfte erziele. Mit Schreiben vom 22.07.2016 teilte er dem Antragsgegner mit, dass er mit seiner Tätigkeit 50,- Euro am 18.02.2016, 170,- Euro am 01.03.2016, 100,- Euro am 06.06.2016 und 100,- Euro am 09.06.2016 eingenommen habe. Der Antragsteller besucht nach seinen Angaben Sprachkurse für die deutsche Sprache.
Von Februar 2016 bis einschließlich Januar 2017 gewährte der Antragsgegner ihm vorläufig Arbeitslosengeld II von monatlich 904,- Euro (Bescheid vom 07.04.2016, Bescheid vom29.07.2016).
Auf den Weitergewährungsantrag hin wurde das Antragsteller im Januar 2017 aufgefordert, Unterlagen zu der selbständigen Tätigkeit zu übermitteln. Der Antragsteller übersandte eine Aufstellung für das vierte Quartal 2016. Demnach hatte er 50,- Euro am 06.10.2015, 50,- Euro am 16.10.2016, 100,- Euro am 26.10.2016 und 200,- Euro am 12.12.2016 eingenommen bei einer monatlichen Miete von 416,50 Euro. Ferner legte er eine EKS für Februar bis Juli 2017 mit prognostizierten monatlichen Einnahmen von 135,- bis 185,- Euro, einer monatlichen Miete von 350,- Euro und monatlichen Verlusten von rund 300,- Euro.
Mit weiterem Schreiben vom 08.02.2017 wurde der Antragsteller aufgefordert, Nachweise zu Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben, eine vorläufige Gewinnermittlung für 2016, Kontoauszüge für das PayPal-Konto und das Konto bei einer weiteren Bank, die Anlage Vermögen (VM), eine Erklärung zur Notwendigkeit eines Büroraums, den Mietvertrag zum Büroraum, Nachweise zur Herkunft bestimmter Bareinzahlungen auf das Girokonto und Steuerbescheide/Steuererklärungen für 2015 und 2016 vorzulegen. Dem Antragsteller wurde für die Mitwirkung eine Frist bis 27.02.2017 gesetzt und auf die Rechtsfolge einer Versagung nach § 66 SGB I bei Nichtmitwirkung hingewiesen. Der Antragsteller übermittelte daraufhin nur die Anlage VM und Kontoauszüge zum PayPal-Konto.
Mit Bescheid vom 03.03.2017 versagte der Antragsgegner Leistungen wegen mangelnder Mitwirkung gemäß § 66 SGB I für die Zeit von 01.01.2017 bis 30.06.2017 vollständig. Es könne wegen der fehlenden Unterlagen nicht zweifelsfrei beurteilt werden, ob ein Leistungsanspruch bestehe. Die Mitwirkung sei zumutbar. ...