Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankenbehandlung. Anspruch auf Implantation einer Hodenprothese
Leitsatz (amtlich)
Die gemäß § 27 Abs 1 S 1 SGB V geschuldete Krankenbehandlung beinhaltet die Implantation einer Hodenprothese nach medizinisch notwendiger Entfernung der Hoden aufgrund eines Tumors.
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 4.7.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.3.2019 verurteilt, dem Kläger die beantragte Implantation einer beidseitigen Hodenprothese als Sachleistung zu gewähren.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Streitig ist die Bewilligung der Implantation einer beidseitigen Hodenprothese als Sachleistung.
Dem 1983 geborenen, bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherten Kläger mussten im Februar 2018 aufgrund eines beidseitigen malignen Hodentumors (Seminom) beide Hoden entfernt werden. Am 27.6.2018 stellte er bei der Beklagten einen Antrag auf Implantation einer beidseitigen Hodenprothese.
Die Beklagte lehnte dies nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme des MDK vom 2.7.2018 mit Bescheid vom 4.7.2018 ab. Im Widerspruchsverfahren wurde dem Kläger eine Anpassungsstörung (F43.2) bedingt durch die fehlenden Hoden attestiert. Es bestehe eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit im Alltag, vor allem durch Hemmnisse im Sozialkontakt, eine Erschwernis bei sozialen Aktivitäten sowie eine Beeinträchtigung der Sexualität. Eine Hodenimplantation würde mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einer dauerhaften Remission der psychischen Störung führen, weshalb diese aus psychosomatischer Sicht zu befürworten sei (Stellungnahme Dr. C. vom 22.2.2019). Der Widerspruch wurde nach Einholung einer weiteren gutachterlichen Stellungnahme des MDK vom 25.1.2019 mit Widerspruchsbescheid vom 15.3.2019 abgewiesen.
Mit der am 18.4.2019 beim Sozialgericht München erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Ziel weiter.
Zur Begründung wird insbesondere auf die infolge der Hodenentfernung entstandenen psychischen Beschwerden verwiesen. Eine unbeschwerte Teilhabe an einem gesunden Sexualleben sei ihm nicht möglich. Selbst etwas so alltägliches wie Schwimmengehen stelle eine psychische Belastung für ihn dar.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 4.7.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.3.2019 zu verurteilen, dem Kläger die beantragte Implantation einer beidseitigen Hodenprothese als Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es sei auch für die Beklagte nachvollziehbar, dass der Kläger erheblich unter den bestehenden Beeinträchtigungen aufgrund der Erkrankung leide. Dies begründe aber aus Sicht der Beklagten unter Berücksichtigung der geltenden Rechtsprechung weiterhin keinen Leistungsanspruch. Eine mögliche Entstellung müsse in bekleidetem Zustand bewertet werden. Auch der Verweis, dass eine Behandlung mit Mitteln der Psychotherapie zu erfolgen habe, sei aus den vorhandenen Urteilen zu entnehmen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
Gegenstand der Klage (§ 95 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist der Ablehnungsbescheid vom 4.7.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.3.2019.
Die statthafte und auch im Übrigen zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4, § 56 SGG) ist begründet. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten erweist sich als rechtswidrig, da der Kläger einen Sachleistungsanspruch auf die Bewilligung der Implantation einer beidseitigen Hodenprothese nach operativer Hodenentfernung wegen beidseitigen Seminoms hat.
Der Kläger kann die beantragte Leistung von der Beklagten aus § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V verlangen. Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Unter einer Krankheit i.S.d. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V wird allgemein ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand verstanden, der ärztlicher Heilbehandlung bedarf oder - zugleich oder allein - den Betroffenen arbeitsunfähig macht. Da aber nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit auch Krankheitswert zukommt, hat die Rechtsprechung diese Grundvoraussetzung dahingehend präzisiert, dass eine Krankheit nur vorliegt, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (st. Rspr, vgl. BSG, Urteil vom 30.9.2015 - B 3 KR 14/14 R -, SozR 4-2500 § 33 Nr. 48, Rn. 29 m.w.N.).
Klarzustellen ist zunächst, dass sich der Anspruch des Klägers auf die beantragte Krankenbehandlung weder aufgrund der Beeinträchtigung körperlicher Funktionen (1.), noch aufgrund eines entstellenden Erscheinungsbildes (2.), noch aus Gründen der Behandlung psychischer Probleme (3.) ergibt. Der Anspruch besteht vielm...