Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Ermittlung der Pflegestufe. Pflegebedarf. Unterschreiten der zeitlichen Schnittstelle von Pflegestufe II zu Pflegestufe III um nur wenige Minuten
Orientierungssatz
Ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe III besteht auch dann, wenn der gesetzliche Mindestzeitaufwand von 240 Minuten im Bereich der Grundpflege um nur wenige Minuten (hier: 8 Minuten) unterschritten wird.
Nachgehend
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 10. Februar 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2010 verurteilt, für die Zeit ab 1. Januar 2010 Leistungen nach der Pflegestufe III zu gewähren.
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Leistungen der Pflegestufe III zustehen.
Der 1947 geborene, bei der beklagten Pflegekasse versicherte Kläger leidet an den Folgen eines im Oktober 2002 erlittenen Schlaganfalls. Die leicht spastische Hemiparese ist mit einer Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes verbunden. Mit Unterstützung ist er in der Lage zu gehen. Als gravierendste Folge eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus ist der Kläger vor einigen Jahren erblindet. Neben weiteren Erkrankungen liegen kognitive Störungen und ein depressives Syndrom vor. Nach dem Schwerbehindertenrecht ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt. Die Merkzeichen "Bl.", "G", "B" und "RF" sind zuerkannt (Bescheid des Versorgungsamts Münster vom 6. Februar 2004). Der Kläger wird im Wesentlichen von seiner Ehefrau pflegerisch versorgt.
Seit März 2003 bezieht er aufgrund des Bescheides vom 2. Juni 2003 Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Grundlage dieser Bewilligung war das Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) der Beklagten vom 4. April 2003, in dem Dr. O. einen grundpflegerischen Hilfebedarf von 137 Minuten ermittelt hatte. Einen Höherstufungsantrag von Oktober 2003 lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 14. Oktober 2003 ab, nachdem die Pflegefachkraft Frau L. in ihrem Gutachten vom 14. Oktober 2003 einen grundpflegerischen Hilfebedarf von 218 Minuten errechnet hatte. In einem von der Beklagten veranlassten Wiederholungsgutachten des SMD vom 21. August 2009 schätzte der Gutachter L. den Hilfebedarf für den Bereich der Grundpflege auf 211 Minuten ein.
Am 7. Januar 2010 stellte der Kläger den hier streitigen Höherstufungsantrag. In dem von der Pflegefachkraft Frau X. unter dem 21. Januar 2010 erstatteten Gutachten wurde ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 216 Minuten angenommen. Durch Bescheid vom 10. Februar 2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Pflegestufe III seien nicht erfüllt. Zur Stützung des hiergegen eingelegten Widerspruchs legte der Kläger ein Pflegetagebuch für die Zeit vom 25. Februar bis 10. März 2010 vor. Der Zeitaufwand für die Grundpflege betrage durchschnittlich 6 Stunden täglich. Nach Einholung einer ärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage von Frau Dr. K. vom 6. April 2010 wies die Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 11. Juni 2010 den Widerspruch zurück. Eine Schwerstpflegebedürftigkeit im Sinne des Gesetzes läge nicht vor.
Mit der am 9. Juli 2010 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er leide an den Folgen seines Schlaganfalls und an seiner Erblindung. Er sei ständig rund um die Uhr, auch nachts, auf die Hilfe seiner Ehefrau angewiesen. Allein die Grundpflege erfordere täglich einen Zeitaufwand von weit über 4 Stunden.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. Februar 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2010 zu verurteilen, für die Zeit ab 1. Januar 2010 Leistungen nach der Pflegestufe III zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig.
Das Gericht hat zur Sachaufklärung zunächst Befundberichte von den behandelnden Ärzten und die Schwerbehindertenakten vom Kreis X. beigezogen. Sodann hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens von dem Arzt für Nervenheilkunde Dr. S ... Der Sachverständige ist in seinem Gutachten vom 14. Juni 2011 aufgrund einer Untersuchung im häuslichen Bereich des Klägers zu dem Ergebnis gekommen, dass der tägliche Hilfebedarf für den Bereich der Grundpflege auf 232 Minuten zu beziffern sei. Dabei errechnete er für die Körperpflege und Darm- und Blasenentleerung einen Aufwand von 119 Minuten, für die Ernährung 62 Minuten und für die Verrichtungen im Bereich der Mobilität einen Zeitaufwand von 51 Minuten.
Der Kläger hat vorgetragen, der Sachverständige habe bei einer Reihe von Verrichtungen zu niedrige Zeitansätze gewählt. Die Beklagte hat Einwendungen gegen die Feststellungen des Sachverständigen nicht erhoben. Mit einem Pflegeaufwand von 232 Minuten werde der gesetzliche Mindestzeitaufwand...