Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Anspruch auf Erlernen der Deutschen Gebärdensprache. Leistungen der Eingliederungshilfe auch ohne Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen. ungedeckter Bedarf. kein Unterlaufen des Leistungsanspruchs durch Kostenverträge. ersatzweise Bestimmung der angemessenen Kosten durch das Gericht. Leistungen zur sozialen Teilhabe. § 113 SGB 9 2018 als generalklauselartige Anspruchsgrundlage. Hausgebärdensprachkurs für hörbehindertes Kind mit Cochlea-Implantat-Versorgung. Sprachentwicklungsverzögerung. gleichzeitige Unterrichtung der Eltern als Mitbegünstigte. Folgenabwägung. Nichtrückzahlung der vorläufig übernommenen Kosten als fiskalischer Nachteil. Gefahren für die körperliche Unversehrtheit des behinderten Menschen oder der nachhaltigen Beeinträchtigung gleichberechtigter und menschenwürdiger Teilhabe. Völkerrecht
Orientierungssatz
1. Das Fehlen von Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen im Sinne von § 123 SGB 9 2018 steht einem Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nicht entgegen. Der Leistungsanspruch ergibt sich vielmehr aus dem zu deckenden Bedarf und kann nicht durch Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen zwischen Leistungserbringer und Kostenträger unterlaufen werden.
2. Die engeren Vorgaben des § 123 Abs 5 SGB 9 2018 (Leistungen der Eingliederungshilfe ohne Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen) greifen nur ein, wenn zwar mit dem gewünschten Leistungserbringer keine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung besteht, aber mit mindestens einem anderen, sodass der Leistungsberechtigte auf diesen alternativen Leistungserbringer zumutbar verwiesen werden kann.
3. Fehlt es insoweit an einer Leistungs- und Vergütungsvereinbarung, ist ein angemessener Rahmen für die Kosten der Leistung seitens des Gerichts festzulegen.
4. § 113 Abs 1 SGB 9 2018 ist als Generalklausel eine selbstständige Anspruchsgrundlage für Leistungen der Eingliederungshilfe zur sozialen Teilhabe.
5. Es kann ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für ein Hausgebärdensprachkurs durch die Eingliederungshilfe bestehen, wenn trotz Cochlea-Implantat-Versorgung eine Sprachentwicklungsverzögerung vorliegt und ein zweiter Kommunikationskanal für den Ausfall des Cochlea-Implantats eröffnet werden kann.
6. Allein die Tatsache, dass neben dem hörbehinderten Kind (als Leistungsberechtigtem) auch dessen Eltern in dem Kurs mitunterrichtet werden, steht dem Anspruch nicht entgegen (Abgrenzung zu LSG Stuttgart vom 18.7.2013 - L 7 SO 4642/12 = ZFSH/SGB 2013, 655).
7. Der lediglich fiskalische Nachteil der Nichtrückzahlung der vorläufig vom Eingliederungshilfeträger und damit der Allgemeinheit übernommenen Kosten (hier: für einen Hausgebärdensprachkurs) hat im Rahmen einer Folgenabwägung gegenüber möglichen Gefahren für die körperliche Unversehrtheit des behinderten Menschen oder der nachhaltigen Beeinträchtigung gleichberechtigter und menschenwürdiger Teilhabe zurückzutreten.
8. Es kann offenbleiben, ob die UN-Behindertenrechtskonvention (juris: UNBehRÜbk), insbesondere deren Art 30 Abs 4 und Art 24, einen unmittelbaren und klagbaren Anspruch auf Erlernen der Deutschen Gebärdensprache vermittelt (dagegen: LSG Stuttgart vom 18.7.2013 - L 7 SO 4642/12 aaO).
Tenor
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, ab dem 02.04.2020 die Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs (Deutsche Gebärdensprache, DGS) durch die A., E-Stadt, als Leistungserbringerin vorläufig und vorbehaltlich einer Entscheidung des Klageverfahrens S 20 SO 64/20 in erster Instanz vor dem Sozialgericht Nürnberg zu übernehmen, und zwar in einem zeitlichen Umfang von maximal wöchentlich 1,5 Stunden (90 Minuten) zu einem Stundenhöchstsatz von € 50,00 pro Stunde (60 Minuten, einschließlich sämtlicher Nebenkosten und der An- oder Abfahrtskosten der Unterrichtenden) bis zum Abschluss einer Leistungs- und Vergütungsvereinbarung im Sinne des § 125 SGB IX zwischen dem Antragsgegner und der A., ab Abschluss einer solchen Leistungs- und Vergütungsvereinbarung in Höhe der darin enthaltenen Vergütungssätze.
II. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
III. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin dem Grunde nach zu zwei Dritteln dem Grunde nach.
IV. Gerichtskosten werden für das Verfahren nicht erhoben.
Gründe
Die Beteiligten streiten im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes um die Kostenübernahme für einen Hausgebärdensprachkurs (DGS) durch den Antragsgegner für die Antragstellerin im Rahmen der Sozialen Teilhabe.
I.
Die 2016 geborene Antragstellerin ("AS") ist vermutlich bereits ab Geburt an Taubheit grenzend schwerhörig. Sie ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen G, B, H, RF und Gl. Seit dem 12.10.2017 ist sie beidseitig mit Cochlea-Implantaten ("CI") versorgt. Nachfolgend erhält die AS Reha-Leistungen im CICERO-Zentrum E. zur Sicherung des Erfolges der CI-Einsetzung im Rah...