Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Übernahme der Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs
Orientierungssatz
1. Zur Übernahme der Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs als Leistung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem SGB 12 bzw dem SGB 9 2018.
2. Az beim LSG München: L 18 SO 4/21
Tenor
I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 05.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.03.2018 verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Übernahme der Kosten für einen Gebärdensprachkurs unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte hat deren Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten zu 4/5 zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin gegen den Beklagten einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für das Erlernen der Deutschen Gebärdensprache (DGS) im Rahmen eines Hausgebärdensprachkurses hat
Die 2016 geborene Klägerin ist von Geburt an beidseitig hörgemindert. Wegen der diagnostizierten sensorineuralen Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachentwicklungsstörungen sind ihr ein Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen G, B, H, Gl und RF zuerkannt. Sie ist seit April 2017 beidseits mit Cochlear-Implantaten (CI) versorgt. Der Beklagte gewährte der Klägerin Leistungen der Eingliederungshilfe in Form von interdisziplinärer Frühförderung als Komplexleistung im Umfang von 72 heilpädagogischen Behandlungseinheiten in den Räumen der interdisziplinären Frühförderung am H. (vgl. Bescheide vom 16.02.2017 und vom 11.12.2017).
Mit einem am 06.11.2017 beim Beklagten eingegangen Schreiben beantragte die Klägerin (erneut) einen Hausgebärdensprachkurs. Zur Begründung wurde ausgeführt, man hoffe zwar, dass die Klägerin mithilfe CIs das Hören und Sprechen lerne. Jedoch bleibe sie in vielen Situationen gehörlos. Die CIs müssten beispielsweise bei bestimmten Sportarten und zum Schlafen abgenommen werden. Auch könnten diese kaputtgehen. Ferner würden die CIs leider nicht zu einem normalen Hörvermögen verhelfen. So sei eine Verständigung bzw. ein Hörverständnis in einem Raum mit vielen Menschen in der Lautsprache nur sehr schwer möglich (Geburtstage, Gottesdienste, Schulhof, Diskothek). In allen diesen Situationen und noch weiteren anderen bleibe die Klägerin faktisch gehörlos und sei auf Gebärdensprache angewiesen.
Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 05.01.2018 den Antrag auf Übernahme der Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs ab. Zur Begründung führte er aus, dass die Übernahme der Kosten für den Gebärdensprachkurs in der häuslichen Umgebung für die Klägerin sowie für die Eltern und der Schwester beantragt worden sei. Die Klägerin gehöre zwar dem Grunde nach zum anspruchsberechtigten Personenkreis nach den §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung (a.F.). Allerdings würden bereits die Kosten für die Interdisziplinäre Frühförderung am H. übernommen. Im Rahmen dieser Frühförderung werden heilpädagogische und logopädische Leistungen erbracht. Die Klägerin erhalte daher eine adäquate und hinreichende Förderung, um sich mit anderen Personen verständigen zu können. Zusammenfassend sei der bestehende Eingliederungshilfebedarf durch die Frühförderung abgedeckt. Eine darüber hinausgehende gebärdensprachliche Förderung sei nicht erforderlich, um den individuellen Hilfebedarf zu decken. Zudem diene die Maßnahme überwiegend dazu, dass auch die Eltern und die Schwester der Klägerin die DGS erlernen. Es bestehe jedoch nur ein Anspruch für den jeweiligen Leistungsberechtigten selbst, mithin also nur für die Klägerin. Der gegen den Ablehnungsbescheid eingelegte Widerspruch vom 15.1.2018 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22.03.2018 zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin mit einem am 16.04.2018 beim Sozialgericht eingegangenen Schreiben Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, dass im Klageverfahren - entgegen der Ausführungen im angefochtenen Bescheid - weder die Eltern der Klägerin noch deren Schwester eine gebärdensprachliche Förderung begehren, zumal diese bereits vom Jugendamt im Rahmen der Hilfen zur Erziehung gewährt wird. Die der Klägerin seitens des Beklagten vorgehaltene Frühförderung sei nicht qualifiziert, diese dahingehend zu fördern, dass sie aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung mittels DGS kommunizieren könne. Es bestehe ein Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form des Hausgebärdensprachkurses, weil dieser entgegen der Auffassung des Beklagten geeignet und erforderlich sei, den Teilhabebedarf der Klägerin zu decken, nämlich deren Teilhabe am Leben in die Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, mithin die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mildern.
Wissenschaftliche Studien würden belegen, dass Kinder, die zweisprachig in Gebärdensprache und Lautsprache aufwüchsen, sowohl in der Gebärdensprache als auch in de...