Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. Mindest-GdB von 80. erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. Voraussetzungen

 

Orientierungssatz

1. Die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) erfordert nach dem ab 1.1.2018 in Kraft getretenen § 229 Abs 3 SGB 9 2018 einen Grad der Behinderung von mindestens 80 sowie eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung.

2. Wie nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG (vgl hierzu Urteile des BSG vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R = BSGE 90, 180 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1, vom 29.3.2007 - B 9a SB 5/05 R = Behindertenrecht 2008, 138 und vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 = SozR 4-3250 § 69 Nr 19) setzt eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung weiterhin voraus, dass der schwerbehinderte Mensch - selbst unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel - praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Kraftfahrzeuges an nur mit fremder Hilfe oder nur mit äußerster Anstrengung gehen kann oder sein Restgehvermögen so unbedeutend ist, dass er schon nach kürzester Strecke schmerz- und/oder erschöpfungsbedingt eine Pause einlegen muss, bevor er weitergehen kann.

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Die am 26.04.1939 geborene Klägerin beantragte am 06.06.2017 die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung der Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "aG". Sie gab Schmerzen in den Knien sowie Probleme beim Gehen und mit der Haltung an.

Der Beklagte holte einen Befundbericht der Hausärztin Frau Dr. D. ein, die am 27.06.2017 über ein degeneratives Wirbelsäulensyndrom, eine beidseitige Gonarthrose, stark deformierten Füßen sowie einen essentiellen Hypertonus berichtete. Die Mobilität der Klägerin sei stark eingeschränkt. Sie könne in der Wohnung wenige Meter mit dem Stock gehen, draußen benutze sie einen Rollator. In Begleitung einer Hilfsperson könne sie ca. 50 Meter gehen. Für längere Strecken sei sie mit einem Rollstuhl mobilisiert. Frau Dr. D. verwies auf einen Bericht der Orthopädin Frau Dr. E. vom 12.02.2015, die ein unsicheres kleinschrittiges Gangbild beschrieb.

Nach Auswertung der Unterlagen durch den ärztlichen Dienst stellte der Beklagte mit Bescheid vom 26.07.2017 ab dem 06.06.2017 einen GdB von 50 sowie das Merkzeichen "G" fest. Dabei stützte er sich auf Funktionseinschränkungen der Knie-, Hüft-, Mittelfuß- und Zehengelenke bei degenerativen Veränderungen. Die Funktionseinschränkungen seitens der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen würden einen GdB von 10 bedinge und sich nicht erhöhend auswirken. Den Antrag auf Feststellung des Merkzeichens "aG" lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, dass die Klägerin zur Fortbewegung nicht ständig auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen sei.

Im Widerspruchsverfahren verwies die Klägerin darauf, dass ihr die Fortbewegung im öffentlichen Raum ohne fremde Hilfe nicht möglich sei. Sie sei auf fremde Hilfe durch eine Begleitperson und Rollstuhl angewiesen. Zudem sei die Höhe des GdB nicht zutreffend festgestellt.

Der Beklagte zog einen Bericht der Frau Dr. E. vom 14.09.2019 bei. Diese berichtete, dass die Klägerin bei der letzten Aufnahme ein kleinschrittiges, unsicheres Gangbild an einem Gehstock gezeigt habe. Die Klägerin sei in der Lage, mit Hilfe des Gehstocks und nur in orthopädischen Schuhe ca. 20 Meter zu gehen. Am Rollator betrage die Gehstrecke 200 Meter, für längere Strecken werde ein Rollstuhl benötigt. Die Klägerin sei auf Dauer zum Fortbewegen auf fremde Hilfe angewiesen.

Der Beklagte veranlasste eine versorgungsärztliche Begutachtung durch Frau Dr. B., die am 14.11.2017 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" empfahl, die Mindestvoraussetzungen für das begehrte Merkzeichen "aG" jedoch verneinte. Eine kurze Strecke könne von der Klägerin bewältigt werden. Unter Berücksichtigung einer zusätzlich bestehenden Schwerhörigkeit, die einen GdB von 60 bedinge, seien zudem die Voraussetzungen für das Merkzeichnen "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebühren-pflicht) erfüllt.

Der Beklagte half dem Widerspruch daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 28.11.2017 insoweit ab, als dass ab dem 06.06.2017 ein GdB von insgesamt 80 sowie zusätzlich die Merkzeichen "RF" und "B" festgestellt wurden. Die Entscheidung stützte sich auf folgende Funktionsbeeinträchtigungen: - Schwerhörigkeit (Einzel-GdB 60) und - Funktionseinschränkungen der Knie-, Hüft-, Mittelfuß- und Zehengelenke bei degenerativen Veränderungen (Einzel-GdB 50). Die Funktionseinschränkungen seitens der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen mit einem Einzel-GdB von 10 wirkten sich weiterhin nicht erhöhend aus.

Hiergegen richtet sich die am 27.12.2017 vor dem Sozialgericht Osnabrück erhobene Klage, mit der die Klägerin die Zuerkennung d...

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