Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 70
Aus dem mit Wirkung zum 1.1.2013 neu gefassten Abs. 3 ergeben sich die Kriterien für die Veränderungen der vertragszahnärztlichen Gesamtvergütungen ab 2013. Die Vorschrift führt einige der berücksichtigungsfähigen Aspekte an. Die Formulierung "unter Berücksichtigung" in Abs. 3 Satz 1 bedeutet, dass sich die Gesamtvertragspartner mit den Kriterien ernsthaft auseinandersetzen müssen, das einzelne Kriterium aber bei der Abwägung in unterschiedlicher Gewichtung anwenden bzw. bis zur Abwägung führen können, dass das Kriterium für die jeweils aktuelle Vergütungsvereinbarung zu vernachlässigen ist. Die Vertragsparteien haben eine Abwägung der im Gesetz aufgeführten Kriterien vorzunehmen und nach außen deutlich zu machen. Die Abwägung haben die Gerichte zu akzeptieren. Aufgetretene Defizite sind im gerichtlichen Verfahren nicht mehr zu heilen (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 7.6.2017, L 11 KA 50/16 KL). Aus der Vorschrift lässt sich keine konkrete Veränderungsrate entnehmen, sodass den Vertragspartnern eine Einschätzungsprärogative bleibt (Krauskopf, in: Krauskopf, SGB V, § 85 Rz. 27).
Rz. 71
Das neu aufgenommene bzw. aus Abs. 1 abgeleitete Kriterium der Zahl der Versicherten bezieht auch die Zahl der mitversicherten Familienangehörigen ein. Unter Struktur der Versicherten sind auch die durch Zu- und/oder Abwanderungen sich ergebenden Veränderungen der Versichertenstruktur erfasst, die zu einem unterschiedlichen Behandlungs- und Leistungsbedarf verschiedener Altersgruppen führen können. So haben z. B. ältere Versicherte in der vertragszahnärztlichen Versorgung einen geringeren Bedarf an konservierend-chirurgischen Leistungen als jüngere Versicherte, sodass solche Strukturveränderungen in den Vereinbarungen über die vertragszahnärztliche Gesamtvergütung berücksichtigt werden können. Dies führt gleichzeitig dazu, dass die Vergütungsverhandlungen differenzierter und bedarfsgerechter, d. h. stärker auf die Versorgungsrealität bezogen, geführt werden können.
Rz. 72
Das Kriterium der Morbiditätsentwicklung ist für die Veränderung der vertragszahnärztlichen Gesamtvergütung neu aufgenommen worden. Morbidität meint die Häufigkeit der Erkrankung bestimmter Personen in einem definierten Zeitraum und ihre Behandlungsbedürftigkeit. Die orale Morbiditätsentwicklung stellt einen maßgeblichen Parameter für den zahnärztlichen Behandlungsbedarf dar, die deshalb bei den Vergütungsvereinbarungen zu berücksichtigen ist. Nach der Gesetzesbegründung können dabei ein regionaler morbiditätsbedingter Rückgang (z. B. eine Abnahme von Füllungen und Zahnextraktionen als Folge der sich weiter verbessernden Mundgesundheit) oder ein Anstieg bestimmter Leistungen durch zahnerhaltende Maßnahmen gegenüber Zahnersatz oder Verschiebungen zwischen den verschiedenen Leistungsbereichen (ohne Zahnersatz) berücksichtigt werden, wenn z. B. durch frühzeitige und vermehrt durchgeführte Parodontose-Behandlungen chirurgische Leistungen (Zahnextraktionen) vermieden werden können.
Rz. 73
Anstelle des bisherigen Kriteriums der Praxiskosten ist analog zum vertragsärztlichen Bereich das Kriterium der Kosten- und Versorgungsstruktur (vgl. BR-Drs. 456/11 S. 85) eingeführt worden. Dies gestattet, regionale Unterschiede und Veränderungen in der Kostenstruktur (wie z. B. das Lohn- oder Gehaltniveau der Praxisangestellten, das Mietniveau und die Investitionskosten) sowie in der Versorgungsstruktur (wie z. B. Veränderungen der Praxisstrukturen durch Zunahme von Gemeinschaftspraxen), die Zahnarztdichte und Änderungen der Angebotsstrukturen (z. B. durch Spezialisierungen) differenzierter zu bewerten. Die Kriterien "Arbeitszeit" sowie "Art und Umfang der zahnärztlichen Leistungen" sind aus der bisherigen Fassung des Abs. 3 unverändert übernommen worden. Die Arbeitszeit bezieht sich dabei auf die vertragszahnärztliche Tätigkeit (einschließlich Zahnersatz im Rahmen der Regelversorgung), aber nicht auf die Leistungserbringung außerhalb der vertragszahnärztlichen Versorgung, die der Vertragszahnarzt ggf. privat mit dem Versicherten abrechnet.
Rz. 74
Eine Anpassung der Gesamtvergütung erfolgt auch, wenn sich der gesetzliche oder satzungsmäßige Leistungsumfang ändert, wenn neue Leistungen eingeführt oder bisherige Leistungen gestrichen werden. Damit kann sich eine Anpassung vergütungsmindernd oder -erhöhend auswirken. Das GMG hatte bereits ausdrücklich auf den auch in Abs. 3 Satz 1 erneut verwendeten Begriff der "Veränderung des Leistungsumfangs" abgestellt (vgl. Abs. 3 Satz 1) und nicht mehr auf "Leistungsausweitung".
Rz. 75
Mit Abs. 3 Satz 2 ist der bisher bestehende Vorrang der Beachtung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität nach § 71 gegenüber den anderen Kriterien dadurch aufgegeben worden, dass mit Wirkung zum 1.1.2013 das Wort "beachten" durch "berücksichtigen" ersetzt und die Formulierung "neben den Kriterien nach Satz 1" eingeführt worden sind. Dabei hat sich der Gesetzgeber offensichtlich an der Auslegung der Wörter "beachten" und "berücksichtigen" im BSG-Urteil v....