Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente. Ermessensausübung. intendiertes Ermessen. Nichtvorliegen eines atypischen Falls bzw einer unbilligen Härte. Begründung der Ermessensentscheidung
Leitsatz (amtlich)
1. Nach § 12a S 1 und S 2 Nr 1 SGB 2 ist ein Leistungsberechtigter nach Vollendung des 63. Lebensjahres gesetzlich verpflichtet, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.
2. Ein Leistungsträger ist im Regelfall berechtigt, einen Leistungsberechtigten aufzufordern, dieser Pflicht nachzukommen. Das in § 5 Abs 3 S 1 SGB 2 bei der Aufforderung zur Beantragung vorrangiger Sozialleistungen anderer Träger vorgesehene Ermessen ist im Falle des § 12a S 1 und S 2 Nr 1 SGB 2 ein sog intendiertes Ermessen, so dass der Leistungsträger im Rahmen der Ermessensausübung die regelmäßig mit der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente verbundenen nachteiligen, aber vom Gesetzgeber grundsätzlich gebilligten Konsequenzen nicht nochmals in eine Abwägung einzustellen hat. Eine die Interessen des Leistungsberechtigten mit dem öffentlichen Interesse im Einzelnen abwägende Ermessensentscheidung ist im Rahmen des § 5 Abs 3 S 1 SGB 2 nur in atypischen Fällen und insbesondere dann erforderlich, wenn die erzwungene Inanspruchnahme der anderen Sozialleistung mit einem außergewöhnlichen Nachteil für den Leistungsberechtigten verbunden wäre, der eine unangemessene ("unbillige") Härte begründen könnte (Anschluss LSG Chemnitz vom 19.2.2015 - L 8 AS 1232/14 ER, juris).
Normenkette
SGB II § 12a Sätze 1, 2 Nr. 1, § 5 Abs. 3 S. 1, § 7 Abs. 4 S. 1, § 13 Abs. 2, § 39 Nr. 2, § 65 Abs. 4 Sätze 1-2; UnbilligkeitsV §§ 1-4, 5 Abs. 1; SGB IV § 8 Abs. 1 S. 1; SGB VI § 77 Abs. 2 S. 1 Nrn. 2-3; SGB X § 35 Abs. 1 S. 3; SGG § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 86a Abs. 2 Nr. 4
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 5. Februar 2015 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgewiesen.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Aufforderung durch den Antragsgegner, eine vorzeitige Rente zu beantragen und begehrt insoweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage zum Sozialgericht und die Rücknahme eines im Wege der Ersatzvornahme durch den Antragsgegner gestellten Rentenantrags.
Der Antragsteller steht beim Antragsgegner als Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau im Leistungsbezug nach dem SGB II. Mit dem 1. August 2013 vollendete er sein 63. Lebensjahr.
Mit Bescheid vom 4. Juli 2014 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, bei seinem zuständigen Rentenversicherungsträger eine geminderte Altersrente zu beantragen. Den dagegen eingelegten Widerspruch vom 1. August 2014 wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 2014 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass sich die Pflicht zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente aus § 12a SGB II ergebe. Die Voraussetzungen des § 65 Abs. 4 SGB II lägen nicht vor und es sei auch keiner der Tatbestände der Unbilligkeitsverordnung erfüllt. Auch im Wege einer teilweise von der Rechtsprechung geforderten Ermessensausübung ergebe sich im Falle des Antragstellers kein anderes Ergebnis. Zwar sei davon auszugehen, dass der Antragsteller bei Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente dauerhaft SGB XII-Leistungen in Anspruch nehmen müsse. Dies sei angesichts der zu erwartenden abschlagsfreien Nettorente von 575,38 Euro allerdings auch bei regulärem Renteneintritt zu erwarten. Daher überwiege das öffentliche Interesse an der Verringerung zu gewährender Sozialleistungen.
Unter dem 30. Oktober 2014 beantragte der Antragsgegner für den Antragsteller bei der … Rente.
Gegen den Bescheid vom 4. Juli 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2014 hat der Antragsteller Klage zu Sozialgericht Gotha erhoben (S 20 AS 5189/14). Parallel dazu hat er beim Sozialgericht Gotha beantragt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen und den Antragsgegner zu verpflichten, den gestellten Rentenantrag zurückzunehmen.
Das Sozialgericht hat den Eilantrag mit Beschluss vom 5. Februar 2015 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Aufforderung durch den Antragsgegner rechtmäßig sei. Rechtsgrundlagen seien §§ 12a S. 1, 5 Abs. 3 S. 1 SGB II. Ausnahmen nach der Unbilligkeitsverordnung oder aus Ermessensgesichtspunkten heraus seien nicht gegeben, da der Antragsteller auch bei Inanspruchnahme einer ungekürzten Rente aufstockende Leistungen nach dem SGB XII erhalten würde. Prognosen, welche SGB II-Leistungen gegenüber aufzuwendenden SGB XII-Leistungen eingespart würden, seien nicht anzustellen.
Dagegen hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt. Er ist der Meinung, der Antragsgegner habe pflichtwidrig kein Ermessen ausgeübt. Soweit der Widerspruchsbescheid Ermessenerwägungen enthalte, seien diese verspätet, je...