1.1 Fristversäumnis
Für das Verwaltungsverfahren ist für das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zunächst das Tatbestandsmerkmal der Fristversäumnis erforderlich. Dabei muss es sich um eine gesetzliche Frist handeln.
Unterschied gesetzliche und behördliche Frist
Um eine gesetzliche Frist handelt es sich, wenn die Frist gesetzlich normiert ist. Grundsätzlich sind gesetzliche Fristen nicht verlängerbar (z. B. Rechtsmittelfristen). Im Gegensatz dazu sind behördliche Fristen solche, die die Behörde selbst bestimmt, die verlängerbar sind und die angemessen gesetzt werden müssen.
1.2 Antrag/Frist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird nur auf Antrag gewährt.
Der Antrag muss innerhalb von 2 Wochen nach Wegfall des für die Versäumnis maßgebenden Hindernisses gestellt werden.
Der Antrag ist zu begründen. Dabei sind die Tatsachen zur Begründung des Antrags bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Handlung nachzuholen. Ist dies geschehen, kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch ohne Antrag gewährt werden.
Glaubhaftmachung
Eine Tatsache ist dann als glaubhaft anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Zugelassen werden kann auch die Versicherung an Eides statt.
Jahresfrist/Ausschlussfrist
Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war.
Höhere Gewalt
Ein Ereignis erfüllt dann das Kriterium der höheren Gewalt, wenn es unabwendbar ist trotz möglicher Anwendung äußerster zumutbarer Sorgfalt. So besteht beispielsweise Einigkeit, dass es sich bei Naturkatastrophen und Kriegen, ggf. bei Unfällen im Sinne eines plötzlich eintretenden unerwarteten Ereignisses von außen, um Fälle höherer Gewalt handelt.
1.3 Verschulden
Weitere Voraussetzung ist, dass den Beteiligten kein Verschulden an der Fristversäumnis trifft. Das Verschulden eines Vertreters ist hierbei dem Vertretenen zuzurechnen.
Ohne Verschulden handelt, wer die nach den Umständen des Falls von einem gewissenhaft Handelnden zu erwartende Sorgfalt beachtet. Grundsätzlich gilt ein subjektiver Maßstab. Es sind insbesondere der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit des Antragstellers zu berücksichtigen.
Zurechenbares Vertreterhandeln/Verschulden
Das Verschulden eines Vertreters wird dem Vertretenen zugerechnet. Dabei ist unerheblich, ob es sich um eine gesetzliche (z. B. Eltern, Betreuer) oder eine rechtsgeschäftliche (z. B. Steuerberater, Rechtsanwalt) Vertretung handelt. Bei den steuer- und rechtsberatenden Berufen wird die Frage des Verschuldens u. a. unter dem Stichwort Büroversehen behandelt (Fristversäumnis trotz sorgfältiger Auswahl, Überwachung und Organisation).
1.4 Antragsgegner
Zuständig für die Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist die Behörde, die über die versäumte Handlung zu befinden hat.
1.5 Unzulässigkeit
In einer Rechtsvorschrift kann allerdings bestimmt sein, dass die Wiedereinsetzung ausgeschlossen ist.
Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine materiell-rechtliche Frist als Ausschlussfrist gesetzlich geregelt wurde, mithin den Anspruch explizit beschränkt oder sich dies durch Auslegung des Sinn und Zweckes der Vorschrift ergibt.
Neben dem Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bestehen. Das BSG hat ausdrücklich festgestellt, dass dieses richterrechtliche Institut beispielsweise auch dann Anwendung finden kann, wenn eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Fristversäumnis nicht mehr möglich ist. Das BSG wies zur Begründung daraufhin, dass die Rechtsinstitute der Wiedereinsetzung und des Herstellungsanspruches nicht deckungsgleich sind, sondern nebeneinander angewendet werden können. So wurde in der Entscheidung ausgeführt, dass
- der Herstellungsanspruch einerseits enger ist als § 27 SGB X, weil nur Fristversäumnisse erfasst werden, die auf Behördenfehlern beruhen (§ 27 SGB X hingegen gerade auch dann eingreift, wenn die unverschuldete Fristversäumnis nicht auf einer Pflichtverletzung der Behörde beruht), andererseits
- der Herstellungsanspruch weiter ist als § 27 SGB X, weil er nicht fristgebunden und unabhängig jedenfalls von fahrlässigem Mitverschulden des Leistungsberechtigten ist und auch Fallgestaltungen betrifft, die nichts mit dem Versäumen einer Frist zu tun haben.