Entscheidungsstichwort (Thema)
Angriffe gegen die tatsächliche Würdigung als Revisionsbegründung
Leitsatz (NV)
Eine Revision ist nur dann i.S. des § 120 Abs. 2 FGO "begründet", wenn Gründe vorgetragen werden, die geeignet sein können, zu einer Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Urteils zu führen. Deshalb kann eine Revision nicht ausschließlich mit Angriffen gegen die tatsächliche Würdigung des FG begründet werden, es sei denn, es werden Umstände bezeichnet, aus denen sich schlüssig ergibt, dass die vom FG getroffenen Feststellungen mit den Denkgesetzen oder mit allgemeinen Erfahrungssätzen unvereinbar sind, dass sie widersprüchlich sind oder aus den Gründen des angefochtenen Urteils nicht nachvollziehbar ist, aus welchen Tatsachen das FG die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen tatsächlicher Art abgeleitet hat.
Normenkette
FGO § 118 Abs. 2, § 120 Abs. 2; DVStB § 18 Abs. 3 S. 2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) begehrt die Verpflichtung des Beklagten und Revisionsklägers (Ministerium), ihm bei der Teilnahme an einer künftigen Steuerberaterprüfung für die schriftlichen Aufsichtsarbeiten eine Verlängerung der Bearbeitungszeit um jeweils drei Stunden zu gewähren.
Der Kläger hat 1998 eine Hirnblutung erlitten, in deren Folge es bei ihm zu einem Gesichtsfeldausfall in Form eines Halbseitendefektes der jeweils linken Gesichtshälfte an beiden Augen gekommen ist. Wegen der näheren Einzelheiten der Behinderung des Klägers hat das Finanzgericht (FG) außer auf die von ihm eingeholte Stellungnahme der Amtsärztin des Stadtgesundheitsamtes X auf ein eingehendes augenfachärztliches Gutachten des Universitätsklinikums Z Bezug genommen, in dem es heißt, es sei "augenärztlicherseits zu empfehlen, bei allen Lesetätigkeiten und bei Aufgaben bestehend aus Schriftarbeit und Nachschlagen in Texten und Büchern [dem Kläger] eine Verlängerung der üblichen Arbeitszeit um 50 % zu gewähren".
Das Ministerium hat den Antrag des Klägers auf Schreibzeitverlängerung abgelehnt. Die hiergegen erhobene Klage hatte im Wesentlichen Erfolg. In dem Urteil des FG heißt es, die Gewährung von Prüfungserleichterungen nach § 18 Abs. 3 der Verordnung zur Durchführung der Vorschriften über Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften (DVStB) stelle einen eigenständigen Verwaltungsakt dar, weil eine nach dieser Vorschrift über Prüfungserleichterungen zu treffende Regelung nicht auf ein bestimmtes Prüfungsverfahren beschränkt sei. Dem Kläger sei zum Ausgleich seiner Körperbehinderung die begehrte Verlängerung der Bearbeitungszeit auch zu gewähren. Das Gericht habe keine Veranlassung, das Ergebnis der ihm vorliegenden fach- und amtsärztlichen Gutachen in Frage zu stellen. Im Falle des Klägers könne nach diesen Gutachen durch eine Schreibzeitverlängerung von nur einer Stunde nicht erreicht werden, dass dem Kläger zumindest annähernd die gleiche Chance auf ein erfolgreiches Abschneiden im schriftlichen Teil der Steuerberaterprüfung eingeräumt wird wie den nichtbehinderten Mitprüflingen. Nach Einschätzung der Amtsärztin sei die Behinderung des Klägers bezogen auf das Anfertigen schriftlicher Aufsichtsarbeiten in ihrer Schwere einer vollständigen Erblindung gleichzusetzen. Die Amtsärztin sei ebenso wie der Augenarzt zu dem Ergebnis gekommen, dass in dem Fall des Klägers eine dreistündige Schreibzeitverlängerung erforderlich sei. Das Gericht halte es für geboten, dem zu entsprechen. Soweit § 18 Abs. 3 Satz 2 DVStB, der eine Schreibzeitverlängerung um höchstens eine Stunde zulasse, dem entgegenstehe, sei diese Vorschrift verfassungswidrig und daher nicht anzuwenden.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom FG zugelassene Revision des Ministeriums, die folgendermaßen begründet wird:
Das Urteil des FG verstoße gegen § 18 Abs. 3 Satz 2 DVStB. Das FG habe bei der Bewertung der vorliegenden ärztlichen Gutachten übersehen, dass der Kläger gelernt habe, seine Sehbehinderung auszugleichen. Der Kläger möge allerdings beim Lesen "im Kontext" gegenüber einem gesunden Kandidaten im Nachteil sein. Ein solches Lesen "im Kontext" komme indes bei einer schriftlichen Prüfungsarbeit nicht in Betracht; auch ein gesunder Examenskandidat lese die Prüfungsaufgabe nicht "im Kontext", sondern Buchstabe für Buchstabe. Das FG unterstelle gesunden Kandidaten eine Arbeitsweise, die nach der Lebenserfahrung kein solcher Kandidat in einem Examen riskiere. Diese läsen im Examen vielmehr ganz genau so wie der Kläger lesen müsse. Dieser sei also insoweit nicht benachteiligt.
Das Ministerium beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben, soweit es der Klage stattgegeben hat, und die Klage auch insoweit abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision des Ministeriums zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig und daher nach § 126 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Beschluss zu verwerfen.
Nach § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a FGO muss die gemäß § 120 Abs. 2 FGO erforderliche Begründung einer Revision die Revisionsgründe angeben, und zwar ―in dem hier vorliegenden Falle einer nicht auf Verfahrensmängel gestützten Revision― durch bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich eine Rechtsverletzung ergibt. Dem ist das Ministerium nicht gerecht geworden.
Das Ministerium hat zwar fristgerecht einen als Revisionsbegründung bezeichneten Schriftsatz vorgelegt. Die in diesem enthaltenen Ausführungen sind indes nicht geeignet, den Anforderungen der vorgenannten Vorschrift zu entsprechen. Denn eine Revision ist nur dann i.S. des § 120 Abs. 2 FGO "begründet", wenn Gründe vorgetragen werden, die geeignet sein können, zu einer Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Urteils zu führen. Eine Revision kann aber nach § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruhe; an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen ist der Bundesfinanzhof hingegen nach § 118 Abs. 2 FGO grundsätzlich gebunden. Deshalb kann eine Revision nicht in einer den Anforderungen des § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a FGO genügenden Weise ausschließlich mit Angriffen gegen die tatsächliche Würdigung, die das FG der Streitsache hat angedeihen lassen, begründet werden, es sei denn, es werden Umstände bezeichnet, aus denen sich schlüssig ergibt, dass die vom FG in dem angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen mit den Denkgesetzen oder mit allgemeinen Erfahrungssätzen unvereinbar sind, dass sie widersprüchlich sind oder aus den Gründen des angefochtenen Urteils nicht nachvollziehbar ist, aus welchen Tatsachen das FG die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen tatsächlicher Art abgeleitet hat (vgl. im Einzelnen etwa Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 118 Rdnr. 54 und 55, mit zahlreichen weiteren Nachweisen); nur wenn das Urteil an einem solchen, der materiellen Rechtsanwendung zuzuordnenden Mangel leidet, verstößt es unbeschadet des § 118 Abs. 2 FGO, der in diesem Falle nicht eingriffe, ebenso wie bei einer fehlerhaften Auslegung oder Anwendung des materiellen Bundesrechts gegen nach § 118 Abs. 1 FGO revisibles Recht.
In der Revisionsbegründung des Ministeriums sind Umstände, aus denen sich eine Rechtsverletzung in dem vorgenannten Sinne ergibt, nicht bezeichnet. Die eingehenden Ausführungen des Ministeriums erschöpfen sich vielmehr ihrem sachlichen Gehalt nach in der Rüge, das FG habe den ihm vorliegenden augenfachärztlichen und amtsärztlichen Gutachten zu Unrecht Glauben geschenkt und sich deren Feststellung zu Eigen gemacht, dass die Sehbehinderung des Klägers durch eine Verlängerung der ihm bei schriftlichen Arbeiten gewährten Bearbeitungszeit um 50 % ausgeglichen werden könne, aber auch müsse, der Kläger also die gleichen Chancen wie ein nicht sehbehinderter Prüfungskandidat nur dann erhalten werde, dann aber auch erhalten könne, wenn ihm bei einer schriftlichen Aufgabe in der Steuerberaterprüfung die eineinhalbfache Bearbeitungszeit eines gesunden Prüfungskandidaten eingeräumt wird. Hierbei handelt es sich um eine dem FG als Tatsachengericht vorbehaltene Würdigung, die gänzlich auf tatsächlichem Gebiet liegt und daher einer Überprüfung im Revisionsverfahren nur nach Maßgabe der eben erläuterten Maßstäbe eingeschränkt zugänglich ist. Dass das FG die ihm gezogenen Grenzen bei der Würdigung und Feststellung des Sachverhalts überschritten hätte, ist in der Revisionsbegründung nicht dargelegt. Wenn das Ministerium in ihr vielmehr vorträgt, dass seiner Ansicht nach der Kläger die in einem Examen erforderliche Leseleistung ebenso gut und schnell erbringen könne wie ein nicht sehbehinderter Prüfungskandidat, so vermag der beschließende Senat daraus keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die entgegengesetzte Würdigung des FG mit Denkgesetzen und Erfahrungssätzen unvereinbar, widersprüchlich oder eine nach den feststehenden Tatsachen nicht nachvollziehbare Schlussfolgerung des FG wäre.
Soweit das Ministerium ferner vorträgt, § 18 Abs. 3 Satz 2 DVStB entspreche entgegen der Ansicht des FG höherrangigem Recht und sei daher nicht nichtig, erschöpft sich das Revisionsvorbringen in einer Rechtsbehauptung, ohne dass Gründe für diese Rechtsansicht des Ministeriums angegeben wären; insbesondere lässt die Revisionsbegründung insofern die nach ständiger Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes erforderliche Auseinandersetzung mit der entgegenstehenden Rechtsauffassung des FG gänzlich vermissen. Das Ministerium ist insbesondere offenbar selbst nicht etwa ―anders als das FG― der Ansicht, eine durch eine mehrstündige Verlängerung der Bearbeitungszeit ausgleichbare Behinderung eines Prüfungskandidatens dürfe unbeschadet des Grundrechts der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes) und des Grundsatzes der Chancengleichheit, die höheren Rang als die Regelungen der DVStB haben, nicht ausgeglichen werden; das Ministerium hält vielmehr lediglich die Annahme des FG für unzutreffend, ein solcher Ausgleich sei möglich und im Falle des Klägers nach dessen persönlicher Behinderung geboten. Mithin greift das Ministerium nicht die verfassungsrechtliche Beurteilung des FG an, sondern dessen tatsächliche Würdigung des im Streitfall gegebenen Sachverhalts. Einzig wenn das Ministerium in diesem Zusammenhang geltend macht, das FG habe verkannt, wie ein nicht behinderter Examenskandidat lese, wenn es sich also insofern auf die Lebenserfahrung beruft, reicht sein Vorbringen über die nach § 118 Abs. 2 FGO für den Senat in einem künftigen Revisionsverfahren bindenden, vom FG bezüglich des Falles des Klägers, nämlich der von dessen Sehbehinderung ausgehenden Beeinträchtigung seiner Leistungsfähigkeit in einer Examensklausur, getroffenen Feststellungen hinaus. Auch insofern ist das Revisionsvorbringen freilich unschlüssig und geht an den Gründen des angefochtenen Urteils vorbei; denn das FG hat sich sein Urteil nicht maßgeblich aufgrund einer von der Lebenserfahrung des Ministeriums abweichenden psychologischen Analyse der Arbeitsweise eines nicht behinderten Examenskandidaten gebildet, sondern weil es das Urteil der Sachverständigen über die Folgen der Behinderung des Klägers für nachvollziehbar gehalten und sich deshalb zu Eigen gemacht hat.
Fundstellen