Entscheidungsstichwort (Thema)
Beteiligtenöffentlichkeit der Beweisaufnahme; Rügeverzicht
Leitsatz (NV)
- Das Recht auf Beteiligtenöffentlichkeit i.S. des § 83 FGO ist verletzt, wenn das Finanzgericht Beweis erhebt, ohne die Beteiligten von dem Termin über die Beweisaufnahme zu benachrichtigen.
- Zu den Verfahrensfehlern, auf deren Rüge verzichtet werden kann, gehört auch das Recht auf Beteiligtenöffentlichkeit einer Beweisaufnahme.
Normenkette
FGO § 79 Abs. 3, §§ 81, 83, 94, 119 Nr. 3, § 155; ZPO § 160 Abs. 3 Nr. 5, § 295
Tatbestand
Der Sohn des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) hatte nach § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) die Auszahlung des Kindergeldes an sich mit der Begründung beantragt, dass sein Vater, der Kindergeldberechtigte, keinen Unterhalt zahle. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Beklagter) gab dem Antrag auf die sog. Abzweigung des Kindergeldes statt. Nach erfolglosem Einspruch erhob der Kläger Klage und erteilte seiner Ehefrau Prozessvollmacht. Das Finanzgericht (FG) lud den Sohn des Klägers (im Folgenden auch: der Beigeladene) zum Verfahren bei. Der Kläger machte geltend, der Antrag sei nicht von seinem Sohn, sondern einer dritter Person gestellt worden.
Das FG lud den Beigeladenen zum Termin zur mündlichen Verhandlung am Mittwoch, den 29. Januar 2003, und ordnete sein persönliches Erscheinen an. Der Beigeladene teilte mit Schreiben vom 20. Januar 2003 mit, aus schwerwiegenden Gründen sei es ihm nicht möglich, an der Verhandlung in Gegenwart seiner Eltern bzw. eines Elternteils teilzunehmen, und übersandte eine Fotokopie seines Personalausweises. Mit Schreiben vom 22. Januar 2003 schlug der Berichterstatter dem Beigeladenen vor, angesichts dessen, dass seine, des Beigeladenen, Identität bestritten werde, am Dienstag, den 28. Januar 2003 in der Präsidialgeschäftsstelle des FG zu erscheinen und sich dort durch Vorlage der Personaldokumente (Personalausweis bzw. Reisepass) auszuweisen.
Ein von dem Vorsitzenden des Senats und der Urkundsbeamtin unterschriebener Aktenvermerk vom 28. Januar 2003 stellt die Anwesenheit der drei Berufsrichter und der Urkundsbeamtin als Protokollführerin fest und hat u.a. folgenden Inhalt:
"Beginn: 10.01 Uhr
Personenidentität wurde überprüft.
Ergebnis positiv .
Auf Frage des Berichterstatters erklärt der Beigeladene:
Ich studiere in …, Studienfach Deutsch und Geschichte (Lehramt). Meinen Lebensunterhalts bestreite ich aus dem Kindergeld und BAföG. Nebenbei jobbe ich noch."
Ausweislich der Protokolls über die mündliche Verhandlung am 29. Januar 2003 erschien für den Kläger seine Ehefrau als Prozessbevollmächtigte. Nach der Übergabe des Schreibens des Beigeladenen vom 20. Januar 2003 an die Vertreter des Beklagten und die Ehefrau der Klägers verlas der Vorsitzende den Aktenvermerk vom 28. Januar 2003. Die Ehefrau erklärte zu einer ihr vorgelegten Fotokopie eines Personalausweises, die in den Kindergeldakten abgeheftet ist, dass die dort abgebildete Person ihr Sohn im Alter von 15 Jahren, der Ausweis aber gefälscht sei.
Das FG wies die Klage ab. Es entschied, die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG lägen vor, da sich der Sohn des Klägers in Berufsausbildung befinde, ohne dass der Kläger nachweislich seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nachkomme.
Der Kläger rügt mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, das FG habe gegen seine Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhaltes verstoßen. Aufgrund der protokollierten Behauptung seiner, des Klägers Bevollmächtigten, in der mündlichen Verhandlung über die Fälschung des Personalausweises hätte sich dem Gericht eine weitere Beweiserhebung aufdrängen müssen. Die Frage, ob der Personalausweis gefälscht gewesen sei, wäre durch ein kriminaltechnisches und ein schriftvergleichendes Gutachten aufzuklären gewesen.
Das FG habe gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen, weil es den Beigeladenen in außergewöhnlicher Form außerhalb der mündlichen Verhandlung ohne die an der Entscheidungsfindung beteiligten ehrenamtlichen Richter angehört habe. Dadurch sei der Bevollmächtigten des Klägers die Möglichkeit genommen worden zu erklären, dass es sich bei dem Beigeladenen nicht um ihren Sohn handele.
Das Gericht sei auch nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 119 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―), weil bei der Anhörung des Beigeladenen die ehrenamtlichen Richter entgegen § 5 Abs. 3 und § 16 FGO nicht mitgewirkt hätten.
Der Beklagte beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO). Das finanzgerichtliche Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
1. Das klageabweisende Urteil des FG beruht in tatsächlicher Hinsicht auf der Überzeugung, dass die Person, die den Antrag auf Abzweigung des Kindergelds gestellt hat und die zum Verfahren beigeladen worden ist, das Kind des Klägers und nicht ―wie vom Kläger behauptet― ein Dritter ist.
Diese Überzeugung hat sich das FG in verfahrensfehlerhafter Weise gebildet.
a) Dem Aktenvermerk vom Tage vor der mündlichen Verhandlung ist zu entnehmen, dass das aus den drei Berufsrichtern bestehende Gericht die Personenidentität überprüft hat und dass das Ergebnis der Prüfung positiv war. Im Tatbestand des finanzgerichtlichen Urteils ist festgestellt, dass sich das Gericht von der Personenidentität anhand der vorgelegten Ausweise überzeugt hat.
Nach § 81 Abs. 1 FGO erhebt das Gericht Beweis ―wozu nach § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO auch die Einnahme des Augenscheins und die Heranziehung von Urkunden gehört― in der mündlichen Verhandlung. Gemäß § 81 Abs. 2 FGO kann das Gericht in geeigneten Fällen schon vor der mündlichen Verhandlung durch eines seiner Mitglieder als beauftragten Richter Beweis erheben lassen. Nach § 79 Abs. 3 FGO kann der Vorsitzende oder der Berichterstatter einzelne Beweise erheben. Gemäß § 83 Satz 1 FGO werden die Beteiligten von allen Beweisterminen benachrichtigt und können der Beweisaufnahme beiwohnen. Diese Vorschrift über die sog. Beteiligtenöffentlichkeit ist Ausdruck des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―) und gilt für alle vorstehend aufgezeigten Möglichkeiten der Beweiserhebung (vgl. Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 83 FGO Tz. 1).
b) Im Streitfall haben die drei Berufsrichter den Beigeladenen und die vorgelegten Ausweise in Augenschein genommen, da der Beigeladene am 28. Januar 2003 persönlich erschienen war und die drei Berufsrichter die Möglichkeit hatten, die erschienene Person mit den Fotografien in den Ausweisen zu vergleichen. Für die Einnahme eines Augenscheins durch die drei Berufsrichter spricht auch die Art der Abfassung des Aktenvermerks vom 28. Januar 2003. Denn darin wird ―wie gemäß § 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 3 Nr. 5 der Zivilprozessordnung (ZPO) für das Protokoll über die Einnahme eines Augenscheins vorgeschrieben― das Ergebnis der Identitätsprüfung festgehalten.
Das FG hat die übrigen Beteiligten von diesem Beweistermin nicht in Kenntnis gesetzt. Sind die Beteiligten unter Verstoß gegen § 83 FGO von dem Termin über eine Beweisaufnahme nicht benachrichtigt worden und nehmen sie infolge ihrer Unkenntnis an dem Termin auch nicht teil, wird ―wie vom Kläger gerügt― ihr Recht auf Gehör in der besonderen Ausgestaltung des Grundsatzes der Beteiligtenöffentlichkeit der Beweisaufnahme verletzt (§§ 83, 119 Nr. 3 FGO). Zur ordnungsgemäßen Rüge dieses Verfahrensmangels (§§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 116 Abs. 3 Satz 3, 119 Nr. 3 FGO) gehört nicht die Darlegung und der Nachweis, dass das Beweisergebnis im Falle der Anwesenheit des nicht benachrichtigten Beteiligten für ihn günstiger ausgefallen wäre (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 83 Rz. 6; vgl. auch Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 83 FGO Tz. 4, m.w.N., zur Pflicht zur Wiederholung einer unter Verstoß gegen § 83 FGO durchgeführten Beweisaufnahme selbst dann, wenn das FG der Überzeugung sein sollte, dass das Fehlen der Beteiligten bei der Beweisaufnahme für deren Ergebnis unerheblich war).
2. Der Kläger hat nicht auf sein Recht, diesen Verfahrensfehler zu rügen, verzichtet. Gemäß § 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO können die Beteiligten auf die Rüge bestimmter Verfahrensfehler verzichten. Da zu den verzichtbaren Mängeln auch die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehörs gehört (vgl. dazu z.B. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 18. Dezember 1970 VI R 313/68, BFHE 102, 202, BStBl II 1971, 591; vom 3. Juni 1992 II B 192/91, BFH/NV 1993, 34), kann für den Grundsatz der Beteiligtenöffentlichkeit als einer speziellen Ausprägung dieses Anspruchs nichts anderes gelten (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs ―BGH― vom 30. Januar 1953 - VI ZR 37/52, Lindenmaier/Möhring, § 295 Zivilprozessordnung Nr. 7).
Aus einer im erstinstanzlichen Verfahren unterlassenen Rüge eines Verfahrensfehlers kann ein Verzicht auf das Rügerecht aber dann nicht ohne weiteres abgeleitet werden, wenn der Beteiligte nicht durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten war. Einem nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten kann die Unkenntnis solcher Verfahrensverstöße regelmäßig nicht zugerechnet werden, die einer entsprechenden Wertung in der Laiensphäre normalerweise verschlossen sind (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz. 103; BFH-Urteil vom 13. März 1996 VI R 79/95, BFH/NV 1996, 758; BFH-Beschluss vom 13. August 1998 VI B 189/96, BFH/NV 1999, 326).
Danach liegen im Streitfall die Voraussetzungen eines Rügeverzichts nicht vor. Das FG hat nicht festgestellt, dass die Ehefrau des Klägers einen der in § 3 Nr. 1 des Steuerberatungsgesetzes (StBerG) aufgeführten Berufe ausübt. Die Ehefrau hat in der mündlichen Verhandlung auch noch im Anschluss an die Verlesung des Aktenvermerks vom 28. Januar 2003 die Identität des Beigeladenen durch ihre Behauptung, der ihr in Fotokopie vorgelegte Ausweis sei gefälscht, bestritten. Sie hat damit zum Ausdruck gebracht, dass sie die Frage der Identität des Beigeladenen weiterhin für nicht geklärt gehalten hat. Unter diesen Umständen konnte das FG nicht annehmen, die Ehefrau des Klägers habe dadurch, dass sie die Verletzung des Anspruchs auf die Beteiligtenöffentlichkeit gemäß § 83 FGO nicht vor dem FG gerügt hat, auf dieses Recht verzichtet.
3. Da die Vorentscheidung bereits aus diesem Grund keinen Bestand haben kann, kann offen bleiben, ob die Beschwerde auch wegen der weiteren Verfahrensrügen Erfolg gehabt hätte.
Das FG wird sich im zweiten Rechtsgang in einer verfahrensfehlerfreien Weise davon überzeugen müssen, ob der Antrag auf Abzweigung von dem Sohn des Klägers gestellt worden ist.
Fundstellen