Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Beschwerde gegen isolierte Kostenentscheidung; Verfassungsmäßigkeit des §79 a Abs. 1 FGO
Leitsatz (NV)
1. Eine sog. außerordentliche Beschwerde gegen eine nach den gesetzlichen Vorschriften unanfechtbare isolierte Kostenentscheidung ist nur statthaft, wenn die angefochtene Entscheidung unter schwerwiegender Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist.
2. Gegen die Vorschrift des §79 a Abs. 1 FGO -- Entscheidung durch den Vorsitzenden im vorbereitenden Verfahren -- bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Normenkette
FGO § 79a Abs. 1, 4, § 128 Abs. 1, 4 S. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Tatbestand
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) machten mit ihrer Klage wegen Einkommensteuer 1986 geltend, die Höhe des Grundfreibetrags gemäß §32 a des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei zu niedrig und daher verfassungswidrig. Das Finanzgericht (FG) schloß sich dieser Auffassung an, setzte das Verfahren durch einen ohne mündliche Verhandlung in der Besetzung mit fünf Richtern gefaßten Beschluß gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) aus und holte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein. Das BVerfG entschied mit Beschluß vom 25. September 1992 2 BvL 5, 8, 14/91 (BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413), daß der Grundfreibetrag zu niedrig, jedoch eine rückwirkende Korrektur nicht geboten sei. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) erließ im Dezember 1994 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr, der entsprechend dem Begehren der Kläger in einigen Punkten gemäß §165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) vorläufig war. Die Beteiligten erklärten daraufhin übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Die zur Berichterstatterin bestellte Richterin erließ einen Beschluß, daß die Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen haben. Der Beschluß enthielt die Rechtsmittelbelehrung, daß er nach §128 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) unanfechtbar sei.
Die Kläger haben gegen den Beschluß Beschwerde eingelegt und rügen, daß der Senat und nicht die Berichterstatterin für die Kostenentscheidung zuständig gewesen sei. Die Voraussetzungen des §79 a Abs. 1 und 4 FGO hätten nicht vorgelegen, weil sich das Klageverfahren nicht mehr im vorbereitenden Stadium befunden habe, nachdem sich bereits das gesamte Richterkollegium, wie der Vorlagebeschluß beweise, intensiv mit der Sache befaßt habe. Auch nach der Entscheidung des BVerfG habe sich der Vorgang nicht wieder "neu" im vorbereitenden Verfahren befunden. Indem die Berichterstatterin anstelle des Kollegiums entschieden habe, sei ihnen, den Klägern, der gesetzliche Richter entzogen worden. Dies sei ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens, der zur Zulässigkeit der außerordentlichen Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit führe. Sie, die Kläger, seien auch in der Sache beschwert. Es sei ungerecht, daß sie die Kosten des Verfahrens tragen müßten, da sie letztlich in der Sache Recht bekommen hätten. Allein die Tatsache, daß eine Korrektur der Veranlagung aus Haushaltsgründen unterblieben sei, könne die Kostentragung nicht begründen. Die Begründung der Kostenentscheidung sei nicht zwingend. Die Frage, ob die Kostenentscheidung mit der Beschwerde angefochten werden könne, habe auch grundsätzliche Bedeutung, denn es gebe noch keine klärende und höchstrichterliche Rechtsprechung, was ein "vorbereitendes Verfahren" i. S. von §79 a FGO sei. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe mit Urteil vom 8. März 1994 IX R 58/93 (BFHE 174, 107, BStBl II 1994, 571) entschieden, daß ein Gericht nicht mehr ordnungsgemäß besetzt sei und damit ein absoluter Revisionsgrund gegeben sei, wenn nach mündlicher Verhandlung der Berichterstatter allein entscheide.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.
Es macht geltend: Ein Rechtsmittel gegen den angefochtenen Beschluß sei nach §128 Abs. 4 FGO unzulässig. Auch nach dem Erlaß eines Vorlagebeschlusses nach Art. 100 Abs. 1 GG sei der Weg für eine Entscheidung des Vorsitzenden oder Berichterstatters nach §79 a Abs. 1 Nrn. 1 bis 5 FGO wieder frei.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht statthaft. Sie war deshalb durch Beschluß zu verwerfen (§132 FGO).
1. Nach §128 Abs. 4 Satz 1 FGO ist in Streitigkeiten über Kosten die Beschwerde abweichend von §128 Abs. 1 FGO nicht gegeben. §128 Abs. 4 ist durch das FGO- Änderungsgesetz vom 21. November 1992 (BGBl I, 2109) nach Maßgabe des Art. 7 mit Wirkung vom 1. Januar 1993 an die Stelle des Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) getreten. Danach ist die Beschwerdemöglichkeit bei sog. isolierten Kostenentscheidungen ausgeschlossen und nur dann zu bejahen, wenn Streit darüber entstanden ist, ob übereinstimmende Erledigungserklärungen vorgelegen haben (vgl. BFH-Beschluß vom 29. November 1993 VIII B 112/93, BFH/NV 1994, 571, 572, m. w. N.). Im Streitfall ist eine isolierte Kostenentscheidung nach §138 FGO ergangen; ein Streit über die Erledigungserklärungen besteht nicht.
Die in §128 Abs. 4 Satz 1 FGO angeordnete Unzulässigkeit der Beschwerde in Streitigkeiten über Kosten hat zur Folge, daß auch die Entscheidung des Vorsitzenden (§79 a Abs. 1 FGO) oder Berichterstatters (§79 a Abs. 4 FGO) über die Auslegung des Begriffs des vorbereitenden Verfahrens und damit die -- ggf. auch konkludente -- Bejahung seiner eigenen Zuständigkeit bei einer isolierten Kostenentscheidung nicht mit der Beschwerde nach §128 Abs. 1 FGO angefochten werden kann.
2. Gegen eine Entscheidung, die nach den gesetzlichen Vorschriften unanfechtbar ist, kann nach der Rechtsprechung ausnahmsweise die sog. außerordentliche Beschwerde in Betracht kommen. Allerdings eröffnet nicht bereits jeder eindeutige Verstoß des Gerichts gegen die bei seiner Entscheidung anzuwendenden Rechtsvorschriften diese Möglichkeit. Vielmehr ist erforderlich, daß die angegriffene Entscheidung dem Gesetz fremd bzw. mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist (greifbare Gesetzeswidrigkeit, Beschlüsse des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 14. November 1991 I ZB 15/91, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1992, 983, sowie vom 26. Mai 1994 I ZB 4/94, NJW 1994, 2363). Dies wird angenommen, wenn der Entscheidung jegliche gesetzliche Grundlage fehlt, insbesondere wenn eine Entscheidung dieser Art oder dieses Inhalts oder dieser Stelle oder aufgrund eines derartigen Verfahrens im Gesetz überhaupt nicht vorgesehen ist (vgl. BFH-Beschluß vom 26. Mai 1977 V B 7/77, BFHE 122, 256, BStBl II 1977, 628) oder wenn sie unter schwerwiegender Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 26. April 1996 III B 35/96, BFH/NV 1996, 700; vom 27. Juni 1996 IV B 168/95, BFH/NV 1997, 57, und BGH-Urteil vom 19. Oktober 1989 III ZR 111/88, NJW 1990, 838).
Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. §79 a Abs. 1 FGO, der die Zuständigkeit zwischen dem Senat einerseits und dem Vorsitzenden oder gemäß §79 a Abs. 4 FGO dem Berichterstatter andererseits abgrenzt, ist verfassungsgemäß. Die Vorschrift ist im konkreten Fall von der Berichterstatterin ohne willkürliche oder sachfremde Erwägungen ausgelegt und angewendet worden, so daß jedenfalls ein schwerer Verfahrensfehler nicht vorliegt. Auch die sachliche Kostenentscheidung stellt keinen greifbaren Gesetzesverstoß dar.
a) §79 a Abs. 1 FGO ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. auch BFH- Beschluß vom 4. Mai 1995 VII B 193/94, BFH/NV 1995, 1021). Danach ist im "vorbereitenden Verfahren" der Vorsitzende für bestimmte Entscheidungen zuständig. Zwar ist der Begriff des vorbereitenden Verfahrens unbestimmt und damit auslegungsbedürftig. Dies verstößt aber nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, der bestimmt, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. Beschlüsse vom 10. Juni 1964 1 BvR 37/63, BVerfGE 18, 85, 92; vom 8. April 1997 1 PBvU 1/95, NJW 1997, 1497, 1498 f.) liegt ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht schon dann vor, wenn zur Bestimmung des gesetzlichen Richters auslegungsbedürftige Begriffe verwendet werden. Auslegungszweifel in bezug auf die zur Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters verwendeten Kriterien sind deshalb unschädlich. Sie eröffnen nicht den Weg zu einer Besetzung der Richterbank von Fall zu Fall, sondern zu einem rechtlich geregelten Verfahren, das der Klärung der Zweifel dient. Jeder Spruchkörper hat bei auftretenden Bedenken die Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung zu prüfen und darüber zu entscheiden. Die in diesem Verfahren getroffene Entscheidung muß als Auslegung und Anwendung verfahrensrechtlicher Normen vom BVerfG im allgemeinen hingenommen werden, sofern sie nicht auf unvertretbaren, mithin sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht; die Vereinbarung der Regelung selbst mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird durch die Möglichkeit einer fehlerhaften Auslegung und Anwendung der Norm im einzelnen Fall nicht in Frage gestellt (vgl. BVerfG in NJW 1997, 1497, 1499).
b) Die Berichterstatterin hat ihre Zuständigkeit für die Kostenentscheidung gemäß §79 a Abs. 1 Nr. 5 Abs. 4 FGO ohne schweren Verfahrensfehler bejaht.
Die durch §128 Abs. 4 FGO angeordnete Unzulässigkeit der Beschwerde i. S. des §128 Abs. 1 FGO bei Streitigkeiten über Kosten darf nicht durch richterliche Rechtsfortbildung umgangen werden. Das wäre aber der Fall, wenn jedweder Fehler bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzen, der im Falle der Zulässigkeit der Beschwerde nach §128 Abs. 1 FGO durch den BFH zu korrigieren wäre, wie z. B. jede nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts i. S. des §116 Abs. 1 Nr. 1 FGO, auch im Wege der sog. außerordentlichen Beschwerde geltend gemacht werden könnte. Deshalb setzt die Zulässigkeit der sog. außerordentlichen Beschwerde voraus, daß ein schwerer Verfahrensfehler geltend gemacht wird. Ein solcher liegt aber nicht bereits immer dann vor, wenn der BFH bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter Begriffe in Vorschriften über richterliche Zuständigkeiten eine andere Entscheidung als die vom FG für richtig erachtete vorgezogen hätte, sondern erst dann, wenn die Bejahung der eigenen Zuständigkeit durch den entscheidenden Richter oder Senat auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen i. S. der oben dargestellten Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beruht.
Zutreffend hat der IX. Senat des BFH in dem Beschluß vom 8. April 1997 IX B 4/97 (BFH/NV 1997, 699, nur Leitsatz) einen schweren Verfahrensfehler, der zur Zulässigkeit der außerordentlichen Beschwerde führt, daher nur im Falle einer offenkundig falschen Besetzung des Gerichts angenommen. Eine andere Auffassung vertritt entgegen dem ersten Anschein auch nicht der II. Senat des BFH in dem Beschluß vom 19. April 1989 II B 177/88 (BFH/NV 1990, 576). Auf diesen Beschluß hat sich der IX. Senat für die Richtigkeit seiner Auffassung gestützt, daß nur bei einer offenkundig falschen Besetzung des Gerichts die sog. außerordentliche Beschwerde zulässig ist. Auch wenn der II. Senat den Begriff "offenkundig" nicht verwendet, sind die Gründe dieses Beschlusses vor dem Hintergrund zu sehen, daß es dort um eine Tatbestandsberichtigung ging und dazu in §108 Abs. 2 Satz 3 FGO unmißverständlich angeordnet ist, daß an ihr nur die Richter mitwirken dürfen, die bei dem Urteil mitgewirkt haben. Deshalb kann bei einem Verstoß gegen diese Vorschrift ohne weiteres ein offenkundiger oder greifbarer Gesetzesverstoß angenommen werden.
Im Streitfall war die Berichterstatterin für die Kostenentscheidung nicht offenkundig unzuständig. Es kann dahingestellt bleiben, ob sie ihre Zuständigkeit möglicherweise sogar im Wege der einzig richtigen Auslegung des §79 a Abs. 1 FGO bejaht hat. Denn für die Annahme, daß ein schwerer Verfahrensfehler nicht vorliegt, reicht aus, daß die Berichterstatterin frei von irgendwelchen sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen angenommen hat, die Sache sei nach Ergehen des Vorlagebeschlusses durch den Senat wieder in das Stadium des vorbereitenden Verfahrens i. S. des §79 a Abs. 1 FGO zurückgefallen. Sie hat in ihrem Nichtabhilfebeschluß vom 23. Februar 1995 zutreffend darauf hingewiesen, daß nach der Entscheidung des BVerfG über den Vorlagebeschluß der vollbesetzte Senat die Sache entweder noch einmal in einer mündlichen Verhandlung oder bei Verzicht auf eine solche in einer Beratung abschließend hätte behandeln müssen. Dies spreche dafür, daß die Sache nach dem Ergehen des Vorlagebeschlusses wieder in das Vorbereitungsstadium zurückgefallen sei. Dieses Ergebnis entspricht auch dem mit §79 a Abs. 1 FGO verfolgten Zweck, die Senate zu entlasten und dem Senat Entscheidungen lediglich dann vorzubehalten, wenn sie in oder auf Grund einer mündlichen Verhandlung vor dem Senat oder im Zusammenhang mit einem vom Senat erlassenen Gerichtsbescheid ergehen (vgl. BTDrucks 12/1061 S. 16). Diese Auslegung liegt auch auf der Linie des BFH-Beschlusses in BFH/NV 1995, 1021, wonach das Verfahren wieder in das Vorbereitungsstadium zurückfällt, wenn durch den Senat ein Verbindungsbeschluß und ein Beweisbeschluß erlassen worden sind und der Beweisbeschluß wieder aufgehoben worden ist. Der VII. Senat hat sich der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Meinung angeschlossen, daß das vorbereitende Verfahren erneut beginnt, wenn nach dem Ende der mündlichen Verhandlung keine Endentscheidung ergeht, sondern zu einem späteren Zeitpunkt noch eine Entscheidung nach §79 a Abs. 1 Nrn. 1 bis 5 FGO erforderlich wird (vgl. BFH/NV 1995, 1021, 1022). Dieser Sachverhalt ist auch bei einem Vorlagebeschluß an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG gegeben, der keine Endentscheidung ist, sondern durch den ein Zwischenverfahren eingeleitet wird.
c) Auch soweit die Kläger die inhaltliche Unrichtigkeit der Kostenentscheidung geltend machen, haben sie eine greifbare Gesetzeswidrigkeit nicht schlüssig vorgetragen. Die angefochtene Kostenentscheidung steht vielmehr -- wie in den Gründen des angefochtenen Kostenbeschlusses auch ausgeführt worden ist -- im Einklang mit der Rechtsprechung des BFH in dem Beschluß vom 18. März 1994 III B 270/90 (BFHE 173, 498, BStBl II 1994, 522).
Fundstellen
BFH/NV 1998, 485 |
NJW 1998, 335 |
NVwZ 1998, 216 |